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Politik

Lebendige Bomben: Die lange Geschichte der Selbstmordattentate

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Japanische Kamikaze-Flieger im Zweiten Weltkrieg, Chomeinis Kindersoldaten, der 11. September und die Terroristen von Paris: Selbstmordattentate sind eine furchterregende Waffe, die die Verwundbarkeit öffentlicher Ordnungen vorführen. In Nizza wurde ein Lkw zur Waffe.

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Bekennervideo ägyptischer und saudischer Terroristen
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Sie sind vergleichsweise einfach durchzuführen, kaum zu verhindern und zutiefst verstörend. Selbstmordattentate offenbaren die Hilflosigkeit jeder Regierung, die die Sicherheit nicht garantieren kann. Und sie verletzen die sittliche Ordnung, die dem Menschen nicht erlaubt, Hand an sich und an andere zu legen.

Vor allem seit Beginn der 90er Jahre registrieren Wissenschaftler und Sicherheitsbehörden eine exponentielle Zunahme. Eine Datenbank der Universität Chicago verzeichnete von 2013 bis Sommer 2015 rund 300 Selbstmordanschläge, die der IS und seine Vorgängerorganisationen im Irak und in Syrien verübten. Auch Boko Haram in Nigeria nutzt verstärkt Selbstmordattentate.

Waren früher vor allem militärische und politische Einrichtungen und Repräsentanten im Visier, so zielt die Logik der Terroristen immer häufiger auf Zivilisten. Der Islamwissenschaftler Navid Kermani spricht von einem eiskalten Kalkül: Es sei „propagandistische Logik“ des IS, „dass er mit seinen Bildern eine immer höhere Stufe des
Horrors zündet, um in unser Bewusstsein zu dringen“.

Die Medien als willige und unfreiwillige Helfer: Aus Paris, Brüssel und Nizza lieferten Handy-Kameras live Szenen der Gewalt und der Angst. „Terror ist ein Genre der medialen Entertainmentindustrie“, analysiert der Philosoph Peter Sloterdijk. Die Medienindustrie sei „terror-afin, weil sie dem Primat der Sensation verpflichtet ist.“ Sloterdijk würde sich eine Nachrichtensperre nach Terroranschlägen, wie sie in der Türkei regelmäßig Anwendung findet, wünschen, hält eine solche „Quarantäne“ allerdings für kaum realisierbar.

Vom biblischen Hünen Samson zur Japanischen Roten Armee

Dabei sind IS, Al Qaida und Hamas nicht die ersten, die das gewaltsame Selbstopfer praktizieren. Die Bibel kennt den Hünen Samson als jüdischen Untergrundkämpfer gegen die Philister. Sein Haupthaar macht ihn unbezwingbar, doch weil seine Geliebte Delila das Geheimnis seiner Stärke verrät, können die Philister ihn überwältigen. Sie scheren ihn und führen ihn zur Volksbelustigung vor. Einmal lässt er sich dabei zu den Mittelsäulen des Philistertempels führen. Im Namen Gottes bringt er den Tempel zum Einsturz. Laut Bibel starben 3.000 Männer und Frauen.

Auch die Frühgeschichte des Islam kennt sie: Die Assassinen, eine schiitische Sekte, aktiv etwa von 1090 bis 1260, führten einen Untergrundkrieg gegen christliche Kreuzritter und korrupte muslimische Herrscher. „Schläfer“ nisteten sich beim Gegner ein, töteten in der Höhle des Löwen. Überleben galt als Schande.

In seinem 2003 erschienenen Buch „Der Märtyrer als Waffe“ sieht der in Israel geborene Journalist Joseph Croitoru eine Wurzel des Selbstmordattentats auch beim Shintoismus und der Kriegerethik der Samurai seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Wer für Japan freiwillig sein Leben ließ, zog in das Pantheon der Shinto-Gottheiten ein. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs opferten rund 3.000 Kamikaze-Kampfflieger ihr Leben, um US-Kriegsschiffe zu zerstören. Sie wurden als in Schönheit fallende „Kirschblüten“ verklärt.

Nach 1945 sprang die Idee des Selbstmordattentats dann in den Nahen Osten über: Es seien bezeichnenderweise Terroristen der linksradikalen Japanischen Roten Armee gewesen, die im Mai 1972 mit Handgranaten auf dem Flughafen Tel Aviv ein erstes Selbstmordattentat angerichtet hätten, so Croitoru. Dieses Vorgehen sei im arabischen Kulturraum dann zu einer systematischen Waffe fortentwickelt worden.

Was ist die Motivation der Attentäter? Der israelische Psychologe Ariel Merari schreibt in seinem Buch „Driven to Death“, etwa die Hälfte der von ihm befragten gescheiterten Attentäter habe sich zuvor freiwillig gemeldet. „Die anderen wurden rekrutiert und dann manipuliert.“ Es handele sich meist nicht um Psychopathen oder religiöse Fanatiker. Gruppendruck und geringes Selbstbewusstsein spielten eine wichtige Rolle. Es gibt allerdings auch eine gegenteilige These: Croitoru schreibt, viele islamistische Selbstmordattentäter fühlten sich als Elite und folgten einem vermeintlich höheren Ziel. Und sie hofften, das ewige Leben zu verdienen. (Christoph Arens, kna/dtj)