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Kolumnen

Licht und Schatten aus London, Stuttgart und Bayern

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Es gibt Anlass zu feiern, in ganz Deutschland, speziell aber im Stuttgarter Raum, der Gegend Deutschlands, in der die Nachfahren der türkischen Gastarbeiter weitgehend in der Mehrheitsgesellschaft angekommen sind. In Stuttgart ist mit Muhterem Aras die erste Deutsche mit türkischen Wurzeln zur Parlamentspräsidentin gewählt worden. Die Vita der aus einer kurdisch-alevitischen Familie stammenden Politikerin der Grünen liest sich wie eine der vielen Geschichten, wie sie heute für viele Deutsch-Türken typisch ist: der Vater Schafszüchter in Anatolien, die Mutter mit wenig bis kaum Schulbildung und dann diese unglaubliche Erfolgsgeschichte binnen einer Generation, gepflastert mit jeder Menge Hürden, also nicht gleich das Gymnasium, sondern die Hauptschule, dann die Wirtschaftsschule, das Studium und eine Steuerkanzlei mit einem Dutzend Mitarbeiter. Lässt das nicht hoffen, ist das nicht Anlass zu größtem Optimismus? Beifall für Muhterem Aras, aber bitte von allen Abgeordneten im Stuttgarter Landtag!

Eine ähnliche Meldung über eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte kam vor wenigen Tagen aus Großbritannien. In London, der sicherlich spannendsten Stadt Europas, vielleicht der ganzen Welt, wurde Sadiq Khan, ein Labour-Politiker, Sohn pakistanischer Einwanderer, zum Bürgermeister gewählt. Bei der Amtseinführung ließ er sich auf den Koran vereidigen. London ist mindestens genauso gemischt, wie das einige hundert Kilometer entfernte Leicester, wo eine Fußballmeisterschaft die Menschen in der Stadt, die aus vielen Nationen stammen, zusammenbrachte. Derartige emotionale Momente brauchen Gesellschaften, in denen große Veränderungen stattfinden. Sie sind die Bindemittel der Gegenwart, damit neue Gemeinschaften entstehen können, der bislang unbekannte Nachbar in der Straße plötzlich ein Gesicht bekommt. Der Staat kann solche Momente nicht schaffen, geschweige denn organisieren, die Menschen müssen es tun. Muhterem Aras, Mutter von zwei Kindern, wird nachgesagt, dass sie keine überragende Rednerin sei, aber die Ergebnisse in ihrem Stuttgarter Wahlkreis zeigen, dass sie mit menschlicher Wärme die Menschen gewinnt, dass sie ein früher konservatives schwäbisches Publikum erreicht.

Diesen beiden guten Nachrichten stand vor wenigen Tagen eine Schreckensmeldung gegenüber, die aus der bayerischen Provinz kam. Dort war es in der Morgendämmerung zu einer Messerstecherei gekommen, ein Mensch wurde getötet, drei weitere verletzt. Die Nachricht sorgte stundenlang für Aufregung im Netz, ohne ausreichende Kenntnis über das, was sich in der Nähe von München auf einem Bahnhof abgespielt hatte, wurde in den online-Leserbriefspalten über einen terroristischen Hintergrund spekuliert. Der Täter wurde mittlerweile in eine psychiatrische Einrichtung gebracht, es wird kein Gerichtsverfahren geben. Aber der Vorfall zeigt doch, dass in der deutschen Gesellschaft die Nerven blank liegen, dass sich Unruhe breit gemacht hat, die sich in Sekundenschnelle in alle Himmelsrichtungen ausdehnt, wenn ein, zwei Reizworte fallen. Sie waren auch der Auslöser für die Spekulationsmeldungen in und aus Bayern.

Was am Ende herauskam, sollte nachdenklich stimmen, Politiker und Medienwelt gleichermaßen. Denn auch die bayerischen Reporter riskierten anfänglich zu viel. Die heutigen Gesellschaften neigen nicht zuletzt wegen der Schnelligkeit der Nachrichtenübermittlung zur Hysterie, sie brauchen Menschen, die diesem Druck widerstehen. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, ist zweifellos einer von ihnen. Auch deswegen schätzen ihn die Menschen im Südwesten, die neue Parlamentspräsidentin sicherlich auch, der Bürgermeister der Multikultistadt London auf andere Weise.

Man darf nun gespannt sein, welche Wirkungen die Berufungen langfristig haben. Sadiq Khan wird daran gemessen werden, ob er bezahlbaren Wohnraum in dieser Stadt schafft, in der vieles aus den Fugen geraten ist, Frau Aras an der Aufgabe, den mit ihrer Wahl sichtbar gewordenen Kulturwandel in der alltäglichen Parlamentsarbeit umzusetzen. Für den Rest müssen besonnene, unaufgeregte Bürger sorgen. Wenn keine Mikrophone hingehalten werden, keine Fernsehkameras in der Nähe sind, läuft es am besten.