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DTJ-Blog

Lieber Gangster als „zu Deutsch“

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„Der Mensch ist gut und will das Gute. Er will dabei auch wohl sein, wenn er tut. Und wenn er böse ist, so hat man ihm sicher den Weg verrammelt, auf dem er gut sein sollte.“

Johann Heinrich Pestalozzi

Rami:

Er zieht sich in der Kabine unseres alt gedienten Fitnessstudios um und redet von den neuen Nahrungsergänzungsmitteln, die vor kurzem auf dem Markt erschienen sind, welche er in Form von Riegeln zu sich nimmt, weil er es sich zum Ziel gemacht hat, einen Körper wie Sylvester Stallone in Rambo III anzutrainieren. Wahrscheinlich, damit er voller Muskeln so unbeweglich wird, dass er sich nicht mehr allein den Hintern abwischen kann. Währenddessen guckt er sich im Spiegel an und überprüft sein angeblich makelloses Gesicht und seinen Bartwuchs, von dem er selbst weiß, keinen zu haben und gibt sich dabei selbst Komplimente, von denen er selbst weiß, dass sie nicht stimmen. Aus der Kabine bewegt er sich unnötig seitlich raus, um mir wahrscheinlich weiszumachen, dass er schon nach drei Wochen Training zu breit geworden ist. Im Fitnessraum angekommen checkt er erst einmal ab, wer von den Kollegen alles da ist, um mit ihnen über Autos, Felgen, Rap, Partys, Hip-Hop Konzerte, KC Rebells neuem Album, Facebook-Videos, Filme, und schließlich wieder über Autos zu plaudern und darüber zu diskutieren, ob sie ihre nagelneuen 5er BMWs verkaufen sollen, die ihre Väter für sie kaufen mussten, weil ihnen wegen Arbeitslosigkeit das Geld fehlte, um sich eine Sportversion Mercedes Benz zu holen. Dass man sich fürs Wochenende für eine Party verabredet und da gemeinsam unzählige Flaschen ext, ist natürlich eine Selbstverständlichkeit, die nicht erwähnt werden muss.

Er geht sofort zum Bankdrücken über ohne sich aufzuwärmen, mit der Überzeugung, dass er dies als „Profi“ nicht braucht. Beim lässigen Vorbeigehen an den Cardios, wo Frauen am Trainieren sind, setzt er seinen dutzende Male geübten, harten Jean Claude Van Damme-Blick auf. Als ich ihm beim Bankdrücken behilflich bin, möchte er wie erwartet, dass ich mehr Gewicht drauf lege, um die Leute zu imponieren. Kurz vor dem Stemmen guckt er sich in den Spiegeln vom Fitnessstudio an und überprüft sein scheinbar makelloses Gesicht und seinen vermeintlichen Bartwuchs und wirft sich selbst Komplimente zu, von denen er selbst weiß, dass sie nicht stimmen. Mit seinem absichtlichen Stöhnen während des Stemmens, versucht er den Frauen zu signalisieren, was für ein testosterongeladener Typ er doch ist. Bemerkenswert ist, dass kein einziger weiblicher Blick in seine Richtung fällt, da diese sich schon zu Beginn mit Kopfhörern in Schutz nehmen, um in Ruhe zu trainieren.

Nach jedem Fitnesssatz greift er zum iPhone und schreibt per WhatsApp mit einer Frau, die keine Achtung von sich selbst hat. Er erzählt, dass er vor einer Woche sich Goodfellas ansah, wo Robert de Niro bei einer Szene so viel Coolness ausstrahlte beim Rauchen, was ihn aufgeputscht habe, jetzt eine ganze Schachtel am Tag zu qualmen. Es heißt, Robert de Niro habe schon damals mit dieser einen Szene einer ganzen Generation das Rauchen angewöhnt. Seit geraumer Zeit guckt er sich in YouTube irgendwelche Videos von einem Typen an, erwähnt es aber nur sporadisch und verhält sich dabei ungewohnt eigenartig. Ein Freund begrüßt uns und reicht mir lächelnd seine Hand, die ich erwidere, was Rami im Gegensatz mit einem arroganten und herablassenden Gesichtsausdruck nur widerwillig tut, weil er seine Freundlichkeit als ein Zeichen von Schwäche sieht und ihn schon damals in der Schule nicht mochte und mobbte. Vielleicht aber auch, weil er gut im Unterricht war, erfolgreich im Leben ist und ihn jeder mag. Rami gehört zu der Kategorie Mensch, die gerne die Grenzen des Anderen austestet, um zu sehen, wieweit er gehen kann, welchen einen manchmal herausfordern, oder eine Art Exempel statuieren muss, um zu zeigen, dass man sich nicht alles gefallen lässt, damit sie dich mehr oder weniger respektieren. Auf meine Frage hin, wie die Klausuren verlaufen sind, fangen der Kumpel und ich an, über politische Weltgeschehnisse zu sprechen und wo wir uns demnächst sozial und politisch engagieren wollen. Rami fühlt sich sichtlich genervt von unserem Gespräch, welches ihm „zu Deutsch“ ist, und unterbricht die Unterhaltung völlig zusammenhanglos mit: „Sieh mal, in diesem Land musst du erst mal Geld machen, und wenn du Geld hast, dann hast du die Macht, und wenn du die Macht hast, dann hast du (…).“ Er zitiert Tony Montana aus Scarface, ein Film, in dem Al Pacino als Exilkubaner in Amerika mit Drogen, Prostitution, Glücksspiel, Gewalt und Mord sich vom Tellerwäscher zum Millionär hoch„arbeitet“, der 1983 gedreht wurde, welche die Hip-Hop Kultur geprägt hat wie kein anderer Film zuvor, und dessen Produktionsstudio nach über 30 Jahren, heute noch, durch den Verkauf von Postern, DVDs und Blu-rays Millionen verdient. Er sieht, dass ich diesmal sichtlich genervt bin, weil ich dieses Zitat nicht mehr hören kann und ihm dutzende Male schon gesagt habe, dass der Film nicht die Realität reflektiert, woraufhin er mir vorwirft, dass ich selbst mal daran geglaubt habe,- vergisst aber dabei zu erwähnen, dass wir damals 13 waren- und es Tony Montana am Ende des Filmes ziemlich böse erwischt. Aus unerklärlichen Gründen trägt er immer ein Taschenmesser bei sich. Er brüllt oft beim Reden. Oft sind genau die Menschen am lautesten, die das Gefühl haben, nicht gehört oder ernst genommen zu werden.

Nach dem Training gehen wir gemeinsam in einen Dönerladen und brechen unseren Hunger, wobei ich immer bezahlen muss, weil er sein Geld für anderweitige Dinge wie Shisha, Kleidung, Partys etc. verballert. Er glaubt, dass diese Dinge ihn zu einem besseren Menschen machen. Während des Essens langweilt er mich mit oberflächlichen Dingen, die nur ihn unterhalten und trotzt dessen er erwartet, dass ich ihm intensiv zuhöre, obwohl ich ihm mehrmals gesagt habe, wie anstrengend es ist, Interessen vorzuheucheln für Thematiken, denen nur unreife Wesen Aufmerksamkeit schenken. Er erzählt gern und oft schlecht ausgedachte und unglaubwürdige Lügengeschichten, die sogar für ein Grundschulkind lächerlich wären. Er lügt, wie viele Menschen wahrscheinlich, um fünf Minuten der Realität zu entschwinden und damit für eine kurze Zeit das Leben erträglicher zu machen. Fast jeder Satz von ihm fängt mit „Lan“ oder „Moruk“ an, und endet meistens mit einem türkischen altbekannten Schimpfwort, was auch eigentlich jedem Türken geläufig sein müsste. Weder beherrscht er die türkische, noch die deutsche Sprache so gut, dass er beispielsweise vor einer Gruppe eine gut artikulierte und verständnisvolle Präsentation halten könnte. Nach dem Essen steigen wir ins Auto, mit dem er mich statt nach Hause nur bis zu nächsten U-Bahn-Station fährt – aus Faulheit, und natürlich um Benzin zu sparen. Kurz vor dem Verabschieden bzw. Aussteigen guckt er sich im Rückspiegel an und überprüft sein angebliches makelloses Gesicht und seinen Bartwuchs, von dem er selbst weiß, dass er keinen hat, und wirft sich selbst Komplimente zu, von denen er selbst weiß, dass sie nicht stimmen.

Wir alle haben zumindest einen Rami in unserem Freundschaftskreis. Einen Freund, mit dem wir zusammen die Schulbank gedrückt und in jeder schwierigen, gefährlichen, ja sogar peinlichen Situation immer zusammenstanden. Krisen wahrhaftig, die die Kameradschaft gestärkt haben. Schöne Momente miteinander teilen, die wir als gutes Kissen für das Alter nutzen werden. Aber irgendwie dann die Lebenswege sich getrennt haben. Ein Freund, der früher sich mit seinem starken Gerechtigkeitssinn für Schwächere eingesetzt hat. Die aber sich anders entwickelt haben, weil die falschen Leute zur falschen Zeit ihnen eine falsche Definition von Männlichkeit suggerierten.

Junge Menschen wie Rami gehören zu den Leuten, die im Kino für die Bösen sind. Junge Menschen wie Rami sind von Gewalt und Hass fasziniert, haben ein geringes- bis gar kein Selbstbewusstsein und starke Minderwertigkeitskomplexe. Junge Menschen, die in ihren Worten und Taten höchst paradox sind. Menschen, die ziel- und orientierungslos im Leben umherirren. Rückschläge, Ablehnung und Misserfolge nicht einstecken können, es nicht schaffen, sich wieder aufzurappeln weil keiner da ist, um ihnen eine Stütze im Leben zu sein und als Resultat dessen mit dem Kopf durch die Wand laufen. Immer auf der Suche nach dem nächsten Rausch. Manchmal höchst opportunistisch, manchmal höchst liebenswürdig, eine Art Hassliebe zu ihnen, aber insbesondere längerfristig keine emotionale Stabilität besitzen, ihre Charakterdefizite nicht wahrhaben wollen bzw. bewusst schauspielerisch verdecken, aber dadurch in Wirklichkeit sich selbst anlügen und auf Schule und Bildung wenig Wert legen. Ob man es wahrhaben möchte oder nicht, aber aus eigener Erfahrung glaube ich das genau diese jungen Menschen sehr anfällig für Gangs und Kriminalität, für das organisierte Verbrechen, die man zum Beispiel als Drogenkuriere einsetzt, um nicht auf frischer Tat ertappt zu werden. Leichtes Kanonenfutter für fundamentalistische Kreise, die mit ihrem manipulativem Gequatsche sogar Sand in der Wüste verkaufen könnten, gewinnen und missbrauchen, sie in den Krieg schicken und an vorderster Front für ihre seelenverseuchte, menschenverachtende, vom Teufel erschaffene Drecksideologie für nichts und wieder nichts sterben lassen. Und das eigentlich schlimme: Es nimmt immer mehr zu!

„Die Freude, das Selbstwertgefühl, sich von anderen anerkannt und geliebt zu wissen, sich nützlich und fähig zu fühlen, das sind Faktoren von ungeheurer Bedeutung für die menschliche Seele. Schließlich bilden das Selbstwertgefühl und die Möglichkeit, an einer sozialen Organisation teilzuhaben, lebendige Kräfte. Und das gewinnt man nicht, indem man Lektionen auswendig lernt oder Probleme löst, die nicht mit dem praktischen Leben zu tun haben. Das Leben muss zum zentralen Punkt werden und die Bildung ein Mittel.“

Maria Montessori

Aber hey… Al Pacino und Robert de Niro sind schon cool ;D