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Gesellschaft

„Nach fünf Jahren gibt es immer noch ungeklärte Fragen“

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Gestern vor fünf Jahren wurde Dr. Marwa El-Sherbiny im Gerichtssaal erstochen und ihr Ehemann von einem dazukommenden Polizisten angeschossen. Die Medienpädagogin Sabine Schiffer beschäftigte sich schon früh mit dem Fall. (Foto: dpa)

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Dresdens Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU - 2.v.l.) und Freunde gedenken am 01.07.2014 in Dresden (Sachsen) im Landgericht an die vor fünf Jahren hier ermordete Ägypterin Marwa El-Sherbini. Vertreter des Freistaates, der Stadt und Freunde legten weiße Rosen an einer Gedenktafel nieder.
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Schiffer war nicht nur Beobachterin und kritische Begleiterin der Berichterstattung in den deutschen Medien, sondern auch Betroffene. Im DTJ-Interview erklärt sie, welche Punkte in dem Fall Marwa El-Sherbiny fünf Jahren nach ihrem Tod immer noch ungeklärt sind und wie sie selbst auf die Anklagebank zitiert wurde: „Ich habe ein Gewaltpotential gegen Muslime bereits in den 1990er Jahren aufkommen sehen und eine weitere Eskalation für möglich gehalten. Aber diesen Mord habe ich auch als persönliches Versagen erlebt – was natürlich eine gewisse Anmaßung darstellt, aber so war meine subjektive Gefühlslage damals und ist sie auch jetzt noch.“

Was ist am 1. Juni 2009 in dem Landgericht Dresden genau passiert?

Die Pharmazeutin Dr. Marwa El-Sherbiny und ihr ungeborenes Kind wurden nach ihrer Aussage gegen Alexander Wiens, der sie auf einem Spielplatz übelst beleidigt hatte, von diesem mit einem mitgebrachten Messer erstochen. Ihr Mann, der gegen den Mörder kämpfte, wurde von einem hereingerufenen Polizisten niedergeschossen. Der Mörder blieb unverletzt. Der kleine Sohn der Familie blieb am Tatort zurück, als die Mutter verstarb und der Vater durch den Schuss, der die Aorta verletzte, ins Koma fiel.

Der Polizist hat nicht den Mörder, sondern den Ehemann von Marwa El-Sherbiny angeschossen. Was ist Ihre Erklärung für dieses Verhalten?

Das ist eine der Fragen, die noch zu klären wären. Meiner Einschätzung nach müsste nach wie vor untersucht werden, inwiefern es sich hier um einen rassistischen Reflex gehandelt hat. Der Bundesgrenzschützer dürfte mit Racial Profiling vertraut gewesen sein und die Medienberichterstattung über Araber und Muslime könnte ihren Teil dazu beigetragen haben, dass nicht auf den blonden Täter geschossen wurde.

Welche ungeklärten Fragen gibt es noch?

Nun, der Mörder hatte zuvor einen Brief ans Gericht geschrieben – es handelte sich ja um ein Berufungsverfahren – und machte darin seine Verachtung und auch Angst vor dem Islam und Muslimen deutlich. Er spricht ihnen darin jede Existenzberechtigung ab und droht indirekt, indem er deren Anwesenheit als Ursache für seine Nervosität ausmachte, und ankündigte, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Ich bin sicher, wenn ein Muslim einen solchen Text mit indirekten Drohungen geschrieben hätte, man hätte der anvisierten Person Schutz gewährt. Im Fall von Marwa und ihrer Familie war das nicht so. Deshalb müsste hier mindestens Fahrlässigkeit untersucht werden. Ja, und Wiens hatte ein japanisches Kampfmesser in seinem Rucksack mitgebracht, kein Küchenmesser, wie es in vielen Medien heißt. Nicht nur das hätte auf Verbindungen in andere Szenen hindeuten können. Seine Computerfestplatte ist ja nie ausgewertet worden, weil sie auf unerklärliche Weise in Brand geriet.

Das Problem wird als Randphänomen kleingeschrieben

Die deutsche Presse hat über den Fall fast zwei Wochen lang nicht berichtet. Wieso nicht?

Es gab Ausnahmen. Einige wenige hatten unsere Pressemitteilung vom 3. Juli zur Kenntnis genommen – nehme ich an. Dazu gehört der Berliner Tagesspiegel, der sich auch im Verlauf der weiteren Prozessbeobachtung positiv hervorgetan hat. Ansonsten herrschte weitestgehend Schweigen bis Verleugnen. Denn als nicht mehr zu leugnen war, dass Marwas Mörder aus islamfeindlichen Motiven heraus gehandelt hatte, wurde schnell nach Erklärungen gesucht, warum das die Gesellschaft nicht insgesamt betreffe. So wurde versucht, den Fall als Ausnahme in die ehemalige DDR zu verorten, oder die Tatsache, dass Wiens Russlanddeutscher war, zu nutzen, um das Problem als Randphänomen kleinzuschreiben. Ja, man ging sogar soweit, den Mord als Ausdruck eines Kampfes zwischen Ausländergruppen abzutun, weil Marwa ja ägyptische Staatsbürgerin war.

Wie hat es der Fall dennoch in die deutschen Medien geschafft?

Erst als die Empörung aus dem Ausland über ausländische Medien nach Deutschland zurückschwappte war offensichtlich der Grad erreicht, dass auch unsere Medien breitflächig berichteten – aber dann konnten sie es wieder in den üblichen Frames von „aufgebrachten und irrationalen Muslimen“ tun. Eine peinliche Posse.

Eine öffentliche Aufarbeitung des Falles und richtige Berichterstattung zu dem Fall hat also überhaupt nicht stattgefunden?

Wie bereits gesagt, eine Aufarbeitung hat nicht wirklich stattgefunden. Die schnelle Aburteilung von Wiens, dem man dann noch psychische Labilitäten nachwies, hat dabei geholfen, den tiefgreifenden Skandal hinter dem tragischen Geschehen zu verschleiern. Das hält bis heute an. Und unsere Medien verfahren ähnlich, wie im sog. NSU-Verfahren: Was gar nicht mehr zu leugnen ist, wird auch berichtet. Aber investigativen Journalismus in dem Bereich, der den Finger in die Wunden von institutionellem Rassismus und behördlichen Verstrickungen legt, findet man allenfalls in Randpublikationen. Eine Debatte über Islamfeindlichkeit haben erst das Minarettverbot in der Schweiz und die Sarrazin-Debatte ausgelöst, nicht der Mord an Marwa El-Sherbiny.

Gibt es andere Fälle in der deutschen Justizgeschichte, in denen ein Mensch im Gerichtssaal ermordet wurde?

Ja, solche Fälle gibt es immer wieder. Sie haben zum Teil dazu geführt, dass Sicherheitsschleusen eingeführt wurden. Das geschah ja dann auch in Dresden. Peinlicherweise war es dann die Familie Marwa El-Sherbinys, die als eine der ersten Prozessbeobachter untersucht wurden. Nur ein Bruchteil dieser Sicherheitsmaßnahmen hätte das Leben Marwas retten können. Aber ich betone noch einmal, es gab Hinweise auf eine Gefahr für sie, und die hätte man ernst nehmen müssen. Dass Wiens im Gerichtssaal zustach, könnte darauf hindeuten, dass der vor aller Augen seine „Ehre“ wieder herstellen wollte – er fühlte sich von der gebildeten Frau mit Kopftuch gedemütigt – er hätte aber ebenso auch auf der Straße oder in dem Wohnviertel seinem Hassobjekt (entschuldigen Sie den Begriff!) auflauern können.

Ich habe diesen Mord als persönliches Versagen erlebt

Sie haben sich ausführlich mit dem Fall beschäftigt. Wieso?

Viele Muslime haben sich an mein Institut gewandt mit der Frage nach den Fakten und der ausbleibenden Medienberichterstattung, wodurch wir auf den Fall sehr früh aufmerksam wurden. Ich arbeitete damals seit fast 20 Jahren zum Thema „antimuslimischer Rassismus in Medien“ und war auch aus diesem Grund persönlich von dem Fall betroffen. Außerdem zogen meine Interviewäußerungen zum Sachverhalt ja eine Klage gegen mich nach sich, so dass ich auch aus juristischen Gründen gezwungen war, mich mit den genauen Abläufen in Dresden auseinander zu setzen. Zudem erhielt ich vom Georg Eckert Institut den Auftrag, die Medienberichterstattung zu dokumentieren und die Darstellungen medienpädagogisch aufzuarbeiten.

Was hat Sie an dem Fall menschlich am meisten betroffen gemacht?

Ich war als Mutter betroffen von dem Schicksal des kleinen Sohnes. Und meine eigene Biografie spielt hier ebenfalls eine Rolle. Dann hat mich die spürbare Verunsicherung vieler Muslime sehr nachdenklich gemacht. Ja, ich habe ein Gewaltpotential gegen Muslime bereits in den 1990er Jahren aufkommen sehen und eine weitere Eskalation für möglich gehalten. Aber diesen Mord habe ich auch als persönliches Versagen erlebt – was natürlich eine gewisse Anmaßung darstellt, aber so war meine subjektive Gefühlslage damals und ist sie auch jetzt noch.

Sie mussten wegen dem Fall vor Gericht. 

Ich erhielt Hasspost und Morddrohungen, nachdem ein islamfeindliches Internetportal eines meiner Interviews inkriminiert hatte und meine E-Mail-Adresse veröffentlichte. Ich hatte in meinen sämtlichen Interviews, die Sie auf unserer Website www.medienverantwortung.de nachlesen können, in verschiedenen Wortlauten auch auf den zu untersuchtenden Schuss auf Elwy Okaz, den Ehemann Marwa El-Sherbinys, hingewiesen.

Die Morddrohungen brachte ich zur Anzeige und dann geschah etwas, das ich nie erwartet hätte in diesem Rechtsstaat. Der Kommissar des Staatsschutzes verfolgte nicht die Morddrohungen, sondern machte Gunter Grimm ausfindig, den Polizisten, der in Dresden auf Elwy Okaz geschossen hatte. Als das Verfahren Ende 2009 gegen ihn eingestellt wurde, erhielt ich umgehend einen Strafbefehl wegen übler Nachrede. Mein Einspruch dagegen führte dann zum Prozess, in dem ich sofort frei gesprochen wurde. Der Richter machte deutlich, wie wichtig es sei, Fragen von möglichem Rassismus anzusprechen und so zu öffentlich relevanten Debatten beizutragen. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg beantragte Revision, zog diese aber im Laufe der Sarrazin-Debatte zurück, wo es ja auch um das Thema Meinungsfreiheit ging – allerdings nicht mit anti-rassistischem Impetus.

Islamfeindliche Einstellungen sind gesellschaftsfähig

Bekamen Sie in der Zeit, als Sie Morddrohungen erhielten, Polizeischutz?

Wie gesagt, offensichtlich betrachtete man die Morddrohungen gegen mich als nicht so gefährlich. Ich sage jetzt mal zynisch: Sie wurden ja auch nicht von Muslimen ausgesprochen! Aber es hat mich schon irritiert, das bei Gericht sogar noch meine Privatadresse verlesen wurde. Es gab dann eine internationale Solidaritätskampagne für mich, die sich u.a. in einer Unterschriftenliste im Internet niederschlug und auch zur Anreise vieler Prozessbeobachter führte. Ich bin immer noch sehr gerührt und dankbar für diese Unterstützung, die das traurige Spiel etwas erträglicher machte.

Haben andere deutsche Intellektuelle und Akademiker sich mit dem Fall beschäftigt?

Besonders beeindruckt hat mich der Einsatz von Stephan Kramer, dem damaligen Generalsekretär des Zentralrats der Juden. Er ist zusammen mit Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime zu Elwy Okaz ins Krankenhaus gefahren und er hat in einem sehr lesenswerten Beitrag auf Qantara.de veröffentlicht, in dem er die Verkennung der Dimension des Mordfalls anprangert.

Wie steht es in Deutschland nach den fünf Jahren um Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit?

Ich finde diese Fragestellung ungünstig, wenn ich das sagen darf. Dieser Begriff „Fremdenfeindlichkeit“ ist schon problematisch. Aber die Verknüpfung mit „Islamophobie“ erst recht. Islamfeindlichkeit ist kein Ressentiment gegen „die Fremden“, nicht mehr. Auch deutsche Muslime sind betroffen. Und diese Kategorie, dass es gegen „die Anderen“ ginge, lenkt ja davon ab, dass es sich um einen Fall von „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ handelt, der hier und jetzt und unter uns allen stattfindet – wir sind alle davon betroffen. Rassismus trifft immer die Gesamtgesellschaft. Auch diejenigen, die sich für was Besseres halten, büßen von ihrer Menschlichkeit ein.

Jetzt habe ich davon abgelenkt, dass die wiederkehrenden Debatten zeigen, dass sich nichts geändert hat. Immerhin gibt es inzwischen den Begriff und an manchen Stellen ein gewisses Problembewusstsein. In den 1990er Jahren wurde die Problematik noch gänzlich als Hirngespinst abgetan. Aber sowohl Einlassungen von politischer Seite oder Äußerungen des Inlandsgeheimdienstes, etliche Medienbeiträge sowie nicht zuletzt der Stimmengewinn sog. Rechtspopulisten bei den Europawahlen belegen, dass islamfeindliche Einstellungen gesellschaftsfähig sind.

Hat die Politik die richtigen Lehren aus dem Fall gezogen?

Nein.