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Gesellschaft

Mein Entsetzen nach Paris

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Ich bin entsetzt und trauere mit den Betroffenen und ihren Angehörigen. Bis heute Morgen hätte ich jedoch nicht gedacht, dass mein Entsetzen durch die Einordnung und Kommentierung der schrecklichen Ereignisse eingeholt werden könnte.

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Nachdem ich – bis auf eine Rückmeldung – alle meine Freunde und Kollegen in Paris wieder habe orten können, begreife ich erst so langsam das Ausmaß der Katastrophe. Worte können die Gefühle kaum beschreiben, es ist entsetzlich. Ich trauere mit den direkt Betroffenen, ihren Angehörigen und uns allen. Bis heute Morgen hätte ich allerdings nicht gedacht, dass mein Entsetzen noch durch die Einordnung und Kommentierung der schrecklichen Ereignisse eingeholt werden könnten.

Mein Entsetzen wird aber tatsächlich noch von Kommentaren gesteigert, die zeigen, wie reflexartig und damit kalkulierbar auf solche Terroranschläge reagiert wird.

Cover Paris

Einigen Politikern ist es gelungen, nicht in die üblichen Zuweisungen zu verfallen – sie betonen die gemeinsame Aufgabe und weisen auf Zusammenhänge hin. Ansonsten Floskelsprech von „unseren Werten“, die es zu verteidigen gelte… gegen wen eigentlich genau?

Jeder Attentäter kann alles rufen

Wie etwa „Wir müssen Freiheit und Demokratie verteidigen gegen Hass und Gewalt!“ … bla, bla, bla. Es ist in der Tat das gleiche Muster, das gleiche Terrormuster wie bei anderen Anschlägen, aber auch das gleiche Reaktionsmuster. Und damit kalkulierbar und wiederholbar, weil man die Effekte planen kann. Es wird die Schließung von Grenzen gefordert, Muslime sollen ausgewiesen werden, der Islam verboten und dergleichen mehr. Mal abgesehen davon, dass jeder Attentäter alles rufen kann und man deshalb kein genaues Bild von den Motiven hat, ist das Narrativ bereits fertig – vorgefertigt.

So etwa Springers Welt: „Hier geht es um uns. Um die Art, wie wir leben.“ Ich muss gestehen, ich habe es nicht ertragen noch weiterzulesen. Zu absehbar ist das zu erwartende Floskelsprech, das verrät, dass sich der Schreiber nicht als Teil einer großen Weltgemeinschaft begreift, sondern als privilegiert anders – und da ist nun wieder was Wahres, nämlich Selbstentlarvendes, dran.

Fragestellungen, wie die nach dem Versagen der Geheimdienste mitsamt ihrer Überwachungsmaßnahmen, wie in der Wiener Zeitung, gehen da sowieso unter. Und die notwendige Recherche gleich mit. Oder haben hier die sogenannten Sicherheitsdienste gar noch Schlimmeres verhindert? Wie ein in Bayern Gefasster aus Montenegro in das Terrorszenario passen könnte, wäre eine interessante Fragestellung und könnte weitergehende Erkenntnisse liefern.

Es ist der gleiche Terror in Afghanistan, Syrien und anderswo

Ein Solidaritätstweet aus Afghanistan, der auf Englisch sein Mitgefühl zum Ausdruck brachte und darauf hinwies, dass man wisse, was es heißt mit Terror zu leben, könnte zum Innehalten animieren. Denn, es ist der gleiche Terror in Afghanistan, Irak, Syrien, Afrika und anderswo, der die Leben der Menschen zerstört und bestimmt. Es ist eben nicht, wie nun einige Medienreaktionen nahe legen, ein Angriff auf UNS und schon gar nicht auf UNSERE Werte – wahrscheinlicher auf die von UNS gepachteten Werte, die IHNEN nicht in gleichem Maße zuerkannt werden. Und auch die vielfach bemühte Formulierung, dass die meisten Opfer von Terror Muslime sind, verstärkt nur das Gefühl der Trennung – auch das sollte man (selbst-)kritisch reflektieren, wenn man nicht in die Falle des Wir vs. Ihr tappen möchte.

Tweet einer Afghanin an die Franzosen

Unsere Sprache verrät uns und sie hält vielfältige Fallen bereit, wo wir uns in etablierten Sprach- und Wahrnehmungsmustern verheddern können. Das Werte-Floskelsprech hat sich in Zeiten des globalen sogenannten War-on-Terror und der illegalen Drohnenkillings längst unglaubwürdig gemacht: Welche Werte denn? Die Kriegspolitik in Folge des wirtschaftlichen Niedergangs? Die gnadenlose Ausbeute von Ressourcen auf Kosten der Natur und meisten Menschen in dieser Welt? Das Vor-Sich-Hertragen eines idealtypischen Wertekanons, der seine Umsetzung noch erwartet, hat etwas von einer Monstranz und entspricht wohl eher religiös-mystischem Wunschdenken, als realistischer Gesellschaftsanalyse.

Solange aber nicht die gleichen Maßstäbe für alle gelten, der Terror anderswo als normal(er) eingestuft wird, man die Verelendung eines großen Teils der Menschheit als schicksalhaft hinnimmt und die strukturelle Gewalt übersieht, wird dem aktuell beobachtbaren Auseinanderdriften und sich Bekämpfen auch nichts Wirksames entgegen gesetzt. Ich möchte mich aber nicht ans Entsetzen gewöhnen!