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Gesellschaft

„Meine Berufung ist ein verspäteter Übergang zur pluralistischen Gesellschaft“

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Vergangenen Monat ist mit Dr. phil. Ilhan Ilkilic zum ersten Mal ein türkischer Muslim in den Deutschen Ethikrat berufen worden. Foto: Zaman

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„Meine Berufung ist ein verspäteter Übergang zur pluralistischen Gesellschaft“
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Die Bundesregierung reagierte damit auf die Tatsache, dass mittlerweile mehr als drei Millionen Muslime in der Bundesrepublik leben. Schließlich bringt ihr anderes Werteverständnis auch für die Gesellschaft neue Fragen zu medizin- und bioethischen Inhalten mit sich. Ilkilic will als eines der 26 Mitglieder des unabhängigen Sachverständigenrates den moralischen Einstellungen der muslimischen Bevölkerung in Deutschland Gehör verschaffen. Der Ethikrat befasst sich mit den „ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie den voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben“. Für Zaman sprachen Betül Çelik und Zahide Okun mit dem Mediziner und Philosophen.

Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl in den Ethikrat Herr Ilkilic. Erklären Sie uns bitte, wie sich der Rat zusammensetzt und wen Sie eigentlich beraten.
Vielen Dank. Im Allgemeinen berät der Ethikrat das Parlament und die Bundeskanzlerin. Er spricht unverbindliche Empfehlungen aus, kann aber auch eine wichtige Rolle im Vorfeld von Regierungsentscheidungen und Gesetzesänderungen einnehmen. Zudem verfolgt er ein eigenes Programm, in dessen Rahmen er Forschungen und Entwicklungen unterstützt oder anstößt. Das Gremium setzt sich aus Psychologen, Medizinern, Ethikern und anderen, zumeist interdisziplinären Wissenschaftlern zusammen. Generell tagt er ein Mal im Monat und bereitet einen Bericht zu einem von der Regierung in Auftrag gegebenes Thema vor.

Welche ihrer Identitäten ist innerhalb der Ratsmitglieder von Bedeutung?
Es ist das erste Mal, dass ein Muslim in den Ethikrat gewählt worden ist. Aber ich denke, dass mein akademischer Hintergrund und meine wissenschaftlichen Forschungen eine viel größere Rolle bei meiner Berufung gespielt haben. Dass die Medien mich mehr als Muslim wahrnehmen und darstellen, ist nicht weiter überraschend. Damit habe ich kein Problem. Für mich ist entscheidend, dass ich mich nicht nur zu Themen äußere, die Muslime betreffen, sondern in erster Linie die gesamte Gesellschaft. Ich stelle meine langjährigen akademischen Erfahrungen der Kommission gerne zur Verfügung.

Es heißt, die Regierung habe dem steigenden Anteil der muslimischen Migranten an der Gesamtbevölkerung Rechnung getragen.
Frühere Regierungen nahmen die Meinungen der Muslime zur Kenntnis, beachteten sie jedoch kaum. Nun aber nimmt die Regierung mit meiner Mitgliedschaft die Muslime als Gesprächspartner wahr und ernst. Dies ist ein wichtiger, wenn auch verspäteter Schritt beim Übergang zu einer pluralistischen Gesellschaft. Es wäre allerdings vermessen zu behaupten, dass mit meiner Berufung nun alle gesundheitsspezifischen Probleme der Muslime gelöst werden. Wir sollten abwarten, wie sich mein Handeln auf die Berichte auswirken. Denn außer mir gibt es noch schließlich 25 andere Mitglieder.

Wie wird sich ihr Wirken in der Politik widerspiegeln?
Wenn die christliche oder jüdische Bevölkerung Istanbuls ein Anliegen hat, nimmt sich die Politik der Probleme ‚unserer Christen bzw. Juden’ an. Das ist kein gewöhnlicher Terminus, vielmehr handelt es sich hierbei um eine Einstellung, die sich über die letzten 500 Jahre in der türkischen Tradition entwickelt und etabliert hat. Um die Probleme der Migranten in Deutschland zu lösen, müssen sich, auch wenn es am Anfang schwerfallen mag, in unseren Köpfen die Begriffe ‚unsere Muslime, unsere Türken’ festsetzen. Dafür braucht es Zeit. Wir sind keine Fremde, sondern seit 50 Jahren ein fester Teil dieser Gesellschaft. Es wäre mir eine große Ehre, wenn ich zu einer friedvollen und offenen Gesellschaft beitragen könnte.

Welche Vereine möchten Sie in Ihre Arbeit einbeziehen? Welche Rolle könnten in diesem Zusammenhang die türkischen Bürger spielen, die hier geboren und aufgewachsen sind?
Vor allem braucht es Menschen, die sich als Teil dieser Gesellschaft empfinden. Leider haben wir das Problem, dass hier viele junge Leute nicht die erforderliche Wertschätzung gesehen haben und sich immer mehr dazu entschließen, ins Ausland, zumeist in ihr Herkunftsland zu gehen. Es darf nicht sein, dass jemand aus einem Nicht-EU-Land, der seine schulische und universitäre Ausbildung hier abgeschlossen hat, wegen fehlender Perspektive in seine Heimat zurückkehrt, während jemand anderes aus einem EU-Land, trotz eines schlechteren Abschlusses, bevorzugt wird und eine Anstellung findet. Viele Migranten, nicht nur Türken, haben Deutschland in den letzten Jahren verlassen – ein großer Verlust in sozialer wie wirtschaftlicher Hinsicht. Die deutschen Steuerzahler beteiligen sich mit ihren Beiträgen mindestens sechs Jahre lang an der Ausbildung eines Arztes. Doch am Ende kann die Gesellschaft nicht von dieser qualifizierten Fachkraft profitieren. In unserer Universitätsklinik arbeiten in manchen Abteilungen 5-6 türkische Ärzte. Dies ist ein Spiegelbild der sich ändernden deutschen Gesellschaft.
Das Ausmaß dieses Problems wird erst deutlich, wenn man sieht, wie erfolgreich diese Menschen im Ausland sind. Nicht wenige sind mittlerweile als Dekan an einer Universität tätig. Nicht nur die deutschen Behörden haben an dieser Entwicklung ihren Anteil, auch die türkische Gemeinde hat es verpasst, diese Menschen zu integrieren und für die Gesellschaft zu gewinnen. Ich hoffe, dass ich dazu beitragen kann, dass der Fokus der Migranten künftig wieder mehr auf Deutschland liegt.

Welche Mängel sehen Sie bezüglich des Abbaus der Vorbehalte gegenüber der türkischen Seite?
Zunächst müssen wir festhalten, dass eine andere Religion und Kultur nicht ein Problem, sondern im Gegenteil eine Bereicherung und die Lösung vieler Probleme sein kann. Es wird kaum beachtet, dass viele Muslime, die Moscheemitglieder und in islamischen Vereinen aktiv sind, vergleichsweise weniger Gewalttaten begehen.
Auch auf gesundheitlicher Ebene besteht ein großes Missverhältnis. Ein Freund von mir, der als Arzt arbeitet, sagt zu seinen Patienten: „Sie können froh sein, dass die türkischen Bürger seltener krank werden.“ Er möchte darauf aufmerksam machen, dass die Behandlung der deutschen Patienten, die altersbedingt häufiger zum Arzt gehen, aus einer gemeinsamen Kasse erfolgt. Obwohl die im Schnitt jüngeren und daher gesünderen türkischen Bürger seltener einen Arzt aufsuchen, zahlen sie dieselben Kassenbeiträge.

Inwiefern kann der Islam das europäische Ethikverständnis bereichern?
Der Islam legt großen Wert auf die Vorsorge allgemeiner Krankheiten. Die Hadithe (prophetischen Aussagen) in den Bänden des Tibb-i Nebevi (‚Prophetische Medizin’) beispielsweise handeln überwiegend von gesundheitsvorsorgenden Maßnahmen. Sie finden zum Teil auch Anerkennung in der modernen Medizin.
Es ist die Verpflichtung eines gläubigen Muslims gegenüber Gott, seinen Körper und seine Gesundheit zu schützen und zu fördern. Jeder Muslim sollte sich fragen, ob er heutzutage dieser Verantwortung nachkommt. Ein ungesundes Leben hat auch Auswirkungen auf die Wirtschaft. In Deutschland werden Millionen von Euros für die Behandlung von Krankheiten ausgegeben, die aus ungesunder Ernährung resultieren. In dieser Hinsicht finden sich in der islamischen Kultur einfache, aber wirksame Tipps wie das Händewaschen vor und nach dem Essen oder das Achten auf Körper- und Zahnpflege. Weniger Fernsehen und Internet, stattdessen mehr Sport oder das Vermeiden von Stress können dem aus heutiger Sicht hinzugefügt werden. Die muslimischen und türkischen Vereine müssen in diesen Fragen mehr Flagge zeigen und ihre Mitglieder motivieren, auf ein gesünderes Leben Wert zu legen. Eines meiner Anliegen während meiner Mitgliedschaft im Ethikrat ist eine enge Kooperation mit diesen Vereinen.
(übersetzt von Mustafa Görkem)