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Kolumnen

Merkel und Erdoğan: Die verhängnisvolle Schicksalsgemeinschaft zweier Realpolitiker

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Dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gelingt es seit den Gezi-Protesten im Sommer 2013 immer stärker, die türkische Gesellschaft nach dem Freund-Feind-Schema zu polarisieren und damit seine Stellung als starker Mann an der Spitze des Staats zu festigen. Dass diese Strategie die Gesellschaft spaltet, gar ihre Existenz gefährdet, scheint ihn kaum zu interessieren. Nun trägt er diese unselige Strategie, mit der er in den letzten zwei Jahren mehrere Wahlen gewonnen hat, in die Arena der internationalen Politik. Das zeigt seine Wirkung vor allem in Deutschland. Wie im Falle der beiden „Cumhuriyet“-Journalisten Can Dündar und Erdem Gül nutzt Erdoğan alle denkbaren Wege, um den ZDF-Comedian Jan Böhmermann in die Schranken zu weisen.

Man kann in der Bewertung seines Schmähgedichts sich der Bundeskanzlerin Angela Merkel anschließen und die Meinung vertreten, dass er zu weit gegangen ist. Ich bin auch der Meinung, dass das Gedicht die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten hat. Darum geht es hier aber in erster Linie nicht. Was wir hier erleben, ist die Funktionsweise des Erdoğan-Sytems. Ein Unrechtssystem, das sich Merkel und die anderen politischen Entscheider in der EU zu lange aus der Ferne unkommentiert anschauten. Sie begründeten ihre Zuschauerrolle mit einem Wort: Realpolitik! Ein Zauberwort, das nicht nur die Zusammenarbeit mit Erdoğan, sondern mit allen Autokraten im Nahen Osten, mit denen man gute Beziehungen pflegt, legitimiert.

Der rhetorisch hochbegabte Erdoğan war nie ein Freund von feinen Worten und der Diplomatie. Er war immer ein Mann der klaren Worte. Um das, was er will, zu erreichen, ist er Zweckbündnisse eingegangen. Für ihn hat die Zusammenarbeit mit demokratischen Kräften wie der Hizmet-Bewegung oder linksliberaler Intellektueller in der Türkei keinen anderen Charakter als die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingsfrage: Nutze sie, solange sie deine Macht stützen und dein Ansehen polieren, heißt das erdoğansche Prinzip. Er ist eben auch ein Realpolitiker.

Sein antidemokratischer Kurs hat seine Gründe

Auch wenn diese Strategie von Erdoğan – ein kaltblütiger Machtmensch, den sowohl seine Gegner als auch Bewunderer lange Zeit unterschätzt haben – auf den ersten Blick erfolgreich scheinen mag, steht er eigentlich in der Türkei sowie international zunehmend unter Druck. Die Verhaftung von Reza Zarrab in den USA hat in regierungsnahen Kreisen in Ankara zu Panikstimmung geführt. Er ist eine Schlüsselfigur im Korruptionsskandal, der Ende 2013 an die Öffentlichkeit kam, jedoch weder politisch noch juristisch aufgearbeitet wurde. Erdoğans antidemokratischer Kurs hat auch eben mit diesen Korruptionsermittlungen gegen sein engstes Umfeld zu tun. Er verhindert seitdem mit allen Mitteln, dass es zu rechtstaatlich einwandfreien Gerichtsverfahren kommt und richtet deshalb sogar Sondergerichte ein.

Es scheint, als ob mit der Verhaftung Zarrabs in den USA die Korruptionsaffäre der Türkei eine internationale Dimension bekommen wird. Das weiß Erdoğan nur zu gut. Die Folge ist, dass er sein Land zunehmend isoliert. Um sein politisches Handeln zu legitimieren, setzt er eine mediale Propagandamaschinerie ein, für die er täglich frische Nachrichten braucht. Für seinen Machterhalt ist es wichtig, dass die öffentliche Meinung im eigenen Land auf seiner Seite bleibt.

Erdoğan, der als Staatspräsident zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet ist, missachtet die Verfassung und handelt de facto als Vorsitzender der regierenden AKP. Diese AKP ist nicht mehr die Hoffnungsträgerin für demokratische Reformen, die sie einmal gewesen ist, und von ihr erwarte ich auch in Zukunft nicht, dass sie auf den Pfad der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt. Die Fehler und Missetaten, die sie vor der Öffentlichkeit verbergen muss, nehmen von Tag zu Tag zu. Das letzte Beispiel hierfür sind die Fälle von Kindesmissbrauch in AKP-nahen Einrichtungen, deren Aufarbeitung die Regierungspartei zunächst verhindern wollte.

Merkels Kurswechsel zur Unzeit

Dass Erdoğan so stark werden konnte, hat nicht nur, aber auch mit der falschen Politik der EU und insbesondere Deutschlands zu tun. Die christdemokratische Regierung in Berlin, die seit 2005 die Türkeipolitik bestimmt, hat Ankara in der Zeit, als Erdoğan ernsthaft an demokratische Reformen und an einer Annäherung an die EU interessiert war, im Stich gelassen. Sie mussten Wahlen gewinnen und für die Wahlen bot sich eben eine antitürkische Kampagne an.

Hätte Angela Merkel vor zehn Jahren, als die Türkei noch auf einem guten Weg in Richtung Demokratie war, diesen türkischen Ambitionen politisch Rechnung getragen, anstatt der Türkei die Tür vor der Nase zuzuschlagen, müsste sie heute vielleicht nicht mit einem autoritären Herrscher verhandeln.

Dass sich die Kanzlerin von Erdoğans Politik der Konfrontation abhängig gemacht hat, ist tragisch. Sie ist ein Ergebnis ihrer Realpolitik, spricht für ihre Kurzsichtigkeit in der Türkei-Politik und in ihrer Einschätzung von Erdoğan.

Das, was wir gerade in der deutsch-türkischen Flüchtlingspolitik abläuft, ist ein Zweckbündnis auf Zeit und fernab von Humanität und Solidarität mit den Betroffenen. Es wird spannend sein zu beobachten, wer von den beiden Realpolitikern – der starke Mann vom Bosporus oder die starke Frau der EU – das Bündnis als erster kündigen wird, weil es aus machtpolitischen Gründen nicht mehr ins Konzept passt.