Politik
Merkels später Sieg? EU-Mitgliedschaft kein Thema mehr in der Türkei
Vor Jahren war es das Credo von Erdoğan und der AKP schlechthin – die EU-Mitgliedschaft der Türkei. Heute darf sich das Thema freuen, wenn es überhaupt Erwähnung in den Wahlprogrammen der Parteien findet.
Es gab Zeiten, in der es in der Türkei – dank der AKP – eine große Zustimmung für die EU-Mitgliedschaft des Landes gab. Die Perspektive der EU-Mitgliedschaft war ein wichtiger Anker sowohl für die inneren Reformen als auch für die Stabilisierung der AKP-Macht. In ihrem Kampf gegen die antieuropäischen Militärs unterstützte die EU die AKP. Mit dieser Unterstützung ist es der AKP gelungen, die Militärs aus der Politik zurückzudrängen. Doch innerhalb der EU erstarkten nach 2006 Kritiker des EU-Beitritts der Türkei. Wie die türkischen Militärs waren auch diese konservativen Kräfte um Angela Merkel und Nicolas Sarkozy gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Sie scheinen die wahren Sieger zu sein.
Heute überrascht es weder inländische noch ausländische Beobachter, dass die Verhandlungen mit der EU und die Frage der EU-Mitgliedschaft im türkischen Wahlkampf keine Rolle spielen. Die seit zehn Jahren andauernden Verhandlungen sind festgefahren, eine Beitrittsperspektive hat keinerlei Glaubwürdigkeit mehr.
Der Beitritts-Prozess, der im Dezember 1999 mit dem Gipfel von Helsinki begann, hat seitdem so sehr an Fahrt eingebüßt, dass sich nicht mal mehr die türkische Presse mit dem Thema beschäftigt. Die diesbezüglichen Positionen in den Wahlprogrammen der Parteien zeugen von Desinteresse. Ganz anders als vor zehn Jahren wird die EU in der Türkei nicht mehr mit Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Etablierung der Grundrechte, wirtschaftlichem Wachstum, Wohlstand und Frieden in Verbindung gebracht. Heute wird der Frage der EU-Mitgliedschaft kein eigener Abschnitt in den Wahlprogrammen gewidmet. Sie ist lediglich ein Unterthema in der Außenpolitik. Als hätte es keine besondere Bedeutung, wird das Thema zwischen den anderen Abschnitten der Wahlprogramme eingestreut. Das ist ein Beleg dafür, dass die EU in der türkischen Innenpolitik kein wichtiger Faktor mehr ist.
Der Niedergang des EU-Themas in der türkischen Innenpolitik
Für den Niedergang des EU-Themas auf der politischen Agenda der Türkei gibt es ohne Zweifel mehrere Erklärungen. Dass die Opposition die Schwäche der Regierung während den Verhandlungen nicht thematisieren konnte, hängt allein mit der Haltung der EU zusammen. So waren wichtige Faktoren, die den Prozess zum Erliegen gebracht haben, folgenreiche Aussagen von konservativen Politikern, wie die vom ehemaligen französischen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy, dass „die Türkei nicht zu Europa gehöre“ und sein Veto gegen die Eröffnung von fünf Verhandlungskapiteln. Die türkische Öffentlichkeit ist der Meinung, dass viele EU-Politiker (unter anderem auch die deutsche Kanzlerin) Sarkozys Position teilen. Und die Türken haben Recht. Denn die EU hat sich in der Zypernfrage inkonsequent und einseitig verhalten und mit dieser Haltung den Norden trotz seiner Unterstützung für den Annan-Plan im Jahre 2004 ausgegrenzt. Das war nicht nur falsch und politisch unklug, sondern auch der Anfang der Kluft zwischen der AKP-Regierung und der EU. Mit dieser Haltung erschwerte die EU es der türkischen Opposition, die EU-Politik der Regierung zu kritisieren.
Die Wirtschaftskrise in der EU, insbesondere der Umgang mit Griechenland, war ein weiterer Faktor, der bei vielen Türken einen Sinneswandel bewirkt hat. Dass die EU, einst Symbol für wirtschaftliches Wachstum, auch ein Krisenherd, ja sogar eine Krisenursache sein kann, wurde in der Türkei in allen politischen Lagern einhellig betont. Einflussreiche Politiker innerhalb der AKP und einige politische Kommentatoren der regierungsnahen „Pool-Medien“ sehen durch die Krise die Wiedergeburt der EU-These der religiös-konservativen Refah Partei von Necmettin Erbakan. Erbakan, der Gründer der Milli Görüş Bewegung und bis zu seinem Tod im Jahre 2011 ihr Führer, war die wichtigste Figur des politischen Islams der Türkei. Er prägte den Diskurs über den „untergehenden Westen“. Viele innerhalb der AKP sehen die Wirtschaftskrise der EU genau aus dieser Perspektive.
Was steht in den Parteiprogrammen?
Sie sind mit ihrer Kritik jedoch nicht allein. Ähnliche Erklärungsmuster kann man auch aus Federn angesehener und seriöser Links-Intellektueller wie beispielsweise Korkut Boratav [türkischer marxistischer Ökonom, Anm. d. Red.] lesen.
Ein Blick in die Wahlprogramme der wichtigsten türkischen Parteien macht deutlich, wie stark die Frage nach der EU-Mitgliedschaft mittlerweile an Bedeutung verloren.
AKP – Gestern für EU-Beitritt und Reformen, heute Staatspartei Nr. 1
Das Wahlprogramm der regierenden AKP umfasst 380 Seiten. Auf diesen 380 Seiten findet sich kein eigener Abschnitt zur EU und der türkischen Vollmitgliedschaft. Außerdem ist auffällig, dass diesem wichtigen Thema im Kapitel „Visionäres Führungsland“ kein eigener Abschnitt gewidmet wird. In dem Unterabschnitt mit dem Titel „Regionale und Internationale Zusammenarbeit“ werden erst andere internationale Kooperationen behandelt, bevor die Rede von der EU ist. Es heißt dann, die AKP hätte zwar Beitrittsverhandlungen aufgenommen, doch „…einige Mitgliedsländer haben aus politischen Beweggründen den Fortschritt verhindert.“ Die Regierungspartei sieht sich für den Stillstand nicht selbst verantwortlich. Ein Ausweg aus der aktuellen Sackgasse findet sich in dem Wahlprogramm der Partei, die einst die treibende Kraft der Reformen und der EU-Mitgliedschaft des Landes am Bosporus war, nicht.
CHP – Verfechterin der Verwestlichung ohne klare Position
Die Republikanische Volkspartei CHP sieht sich als eine sozialdemokratische Partei und steht für die Verwestlichung der Türkei. Sie behandelt das Kapitel EU unter dem Abschnitt „Außenpolitik“. Im Gegensatz zu der Regierungspartei AKP widmet sie dem Thema einen eigenen Unterabschnitt. Inhaltlich jedoch unterscheidet sich der Umgang der „ewigen“ Oppositionspartei mit dem EU-Thema kaum von den anderen Parteien. Im Mittelpunkt des 202 Seiten umfassenden Wahlprogramms steht die Wirtschaft- und Sozialpolitik. Dies ist auch zweifellos eine richtige Entscheidung. Sie merkt aber nicht, dass die EU-Politik mehr als „Außenpolitik“ ist. Unter dem Abschnitt „Türkei als EU-Mitglied“ heißt es: „Wenn wir an die Regierung kommen, werden wir den Prozess, der im Jahre 1963 von uns eingeleitet wurde, erfolgreich abschließen und die Türkei zu einem respektablen EU-Mitglied machen.“ Der Satz, der in den früheren Programmen an erster Stelle stand, kommt hier an zweiter Stelle: „Wir werden unseren Gang auf dem Weg in die zeitgenössische Zivilisation und Demokratie seit der Gründung unserer Republik auf die EU-Mitgliedschaft steigern und fortsetzen“. Das Neue an der Partei, was sich auch in diesem Abschnitt findet, ist die Betonung der „Sozialdemokratie“. Unter dem früheren Vorsitzenden Deniz Baykal war dies noch ein Tabu.
HDP – Behandelt EU-Thema kurz und bündig – aber konzeptlos
Die Partei, die dem Thema die geringste Aufmerksamkeit widmet, ist die HDP. „Wir werden im Rahmen unserer Prinzipien die Verhandlungen mit der EU und die angestrebte Vollmitgliedschaft aufgreifen.“ Dieser Satz, mit dem die ganze EU-Frage abgearbeitet wird, soll jedoch nicht als Beleg für ein etwaiges Desinteresse der Partei an dem Thema verstanden werden. Aufgrund der Kürze des gesamten Wahlprogramms erging es vielen anderen Themen ähnlich. Die HDP ist bei Themen wie LGBT (Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und sexueller Selbstbestimmung), in der Frage der Minderheitenrechte sowie in ihren Standpunkten zu Sozial- und Grundrechten die Partei, die den Kopenhagener Kriterien am nächsten steht. Trotzdessen gibt es im Parteimanifest der HDP kein Kapitel und kein Konzept, in welchem ihre EU-Politik explizit behandelt wird. Und das, obwohl es gerade die kurdischen Wähler sind, die genau hinschauen, wenn es um die EU-Mitgliedschaft geht.
MHP sieht die Zukunft der Türkei nicht unbedingt in der EU
Die MHP mag zwar ähnliche Aussagen zu Demokratie und Grundrechten in ihrem Programm haben, doch unterscheidet sich ihr Programm am stärksten von dem der HDP. Die türkisch-nationale MHP ist die Partei, die im Wahlkampf eine Anti-HDP-Strategie fährt. Genauso oft, wie bei der HDP die Begriffe Pluralismus, Minderheiten und Föderalisierung im Vordergrund stehen, kommt im Wahlprogramm der MHP der Begriff „ein(e) einzig(e)“ („tek“) vor. Ihr kategorischer Leitsatz, der mit „unser Appell“ beginnt, endet mit „ein Vaterland, eine Fahne, eine Nation, ein Staat, eine Sprache“.
Nach Vorstellung der MHP liegt die Zukunft der Türkei nicht zwangsläufig in der EU. Sie nimmt vielmehr „in der eurasischen Geopolitik eine zentrale Rolle“ ein. Im Programm der MHP finden sich auch Stellen, die sich als EU-kritisch deuten lassen: „Unsere Partei sieht die Beziehungen zur EU nicht als eine ‚Identitäts- und Schicksalsfrage‘ für die Türkei an. Was es auch kosten mag, die Türkei muss davor bewahrt werden, dass sie dazu gezwungen, verurteilt und bedürftig ist, weiter in der Umlaufbahn der EU vor sich hin zu treiben“ heißt es dort zum Beispiel. Die rechtsnationale Partei von Devlet Bahçeli zielt zwar laut Programm auf die Vollmitgliedschaft ab. Es bleibt jedoch fraglich, wie ernst sie dies meint, wenn im Programm steht: „Es ist ein Prinzip unserer Politik, dass die Verhandlungen nur auf Augenhöhe fortgeführt werden unter dem Vorbehalt, dass keinen Interessen der Türkei dadurch geschadet und keine Zielsetzung außer der Partnerschaft akzeptiert wird.“ Wenn die MHP „Verhandlungen über Partnerschaft“ sagt, meint sie damit wohl „Verhandlungen über die Mitgliedschaft“.
Ein Blick in die Wahlprogramme der wichtigsten türkischen Parteien zeigt also, dass das EU-Thema in der türkischen Innenpolitik nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Somit haben die konservativen Kräfte in Europa und die pro-militärischen Kräfte in der Türkei, die sich seit jeher gegen die Vollmitgliedschaft der Türkei aussprechen, ihr Ziel doch erreicht. Und das mit Unterstützung von Staatspräsident Erdoğan.
Der Journalist und Politkwissenschaftler Ali Yurttagül ist EU-Experte und Kolumnist der Tageszeitung Zaman. Er war 29 Jahre im EU-Parlament als Berater der Grünen-Fraktion tätig.