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Kolumnen

Mezza Voce: Was politischen Debatten in Deutschland manchmal fehlt

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In Berlin gab es Ende der 1920er Jahre eine Gesangsgruppe mit dem Namen „Comedian Harmonists“. Sie bestand aus vorzüglichen Stimmen, aber das Geheimnis ihres Erfolges bestand unter anderem darin, dass niemand so laut sang, wie er es eigentlich vermochte. Dadurch entstand ein besonders eingänglicher Sound, der bis zum heutigen Tag den Hörer begeistert. Alt und Jung liebt  diese Musik. Die Nationalsozialisten beendeten übrigens den Welterfolg des Ensembles. Es fiel auseinander, weil es mehrere jüdische Mitglieder hatte, denen ein Berufs- und Auftrittsverbot erteilt wurde.

Mit: „Bitte nicht so laut“ könnte man auch zwei Vorgänge  kommentieren, die zurzeit die Gemüter erregen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Ayman Mazyek, hat bei einer Bewertung des Parteiprogramms der AfD tief in die Schubladen der deutschen Geschichte gegriffen und von einer „existentiellen Bedrohung“ einer Religionsgemeinschaft gesprochen, die es in diesem Ausmaß in Deutschland zum ersten Mal seit der Hitler-Zeit wieder gebe. Mit dem Drittes-Reich-Vergleich  hat Mazyek eines erreicht, was im alltäglichen Mediengetöse schwer zu haben ist: Aufmerksamkeit. Ob er sich und seiner Organisation mit dem Vorstoß, mit der Provokation, einen Gefallen getan hat, steht auf einem anderen Blatt.  Eine Partei, die sich formiert, die im Grunde genommen nur ein Thema hat, sollte man in der gegenwärtigen Entwicklungsphase  vorübergehend sich selbst überlassen, sie nicht zu ernst nehmen, solange sie nicht Positionen vertritt, die gegen die Gesetze dieses Landes, gegen die Verfassung verstoßen. Tatsache ist, dass die Wahlerfolge der AfD erst zu dem Zeitpunkt einsetzten, als zu Jahresbeginn 2016 die Bundesrepublik Woche für Woche um die Einwohnerzahl einer mittleren Stadt wuchs. Wie damit auf längere Sicht umzugehen ist, darauf haben die etablierten deutschen Parteien bislang keine überzeugende Antwort gefunden. Daher wird die AfD wohl weiterhin Wahlerfolge haben, so bedauerlich dies auch sein mag.

Eine Zurücknahme der Lautstärke empfiehlt sich auch beim zweiten Thema, der bevorstehenden Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages, für die die Parteien wieder einmal den „optimalen“ Zeitpunkt gewählt haben. Präsident Erdogan wird sich von ihr nicht beeindrucken lassen, im Gegenteil, es sind dadurch neue Auseinandersetzungen zwischen der EU und der Türkei wegen der zu ratifizierenden Flüchtlingsabkommen zu erwarten. Genauso wenig haben die deutschen Parteien bedacht, dass die Resolution, in der ein Völkermord festgestellt werden soll, der sich vor rund 100 Jahren ereignet hat, die Gefühle vieler Türken und auch Deutsch-Türken verletzt.  Es ist die Sache einer Nation, sich unbewältigten Kapiteln der Vergangenheit zu stellen. Eine in einem anderen Land verabschiedete Resolution stellt daher einen erheblichen Eingriff in den Gefühlshaushalt eines Landes dar. Man sollte die Türkei dazu ermuntern, sich der schwierigen Vergangenheit – das Osmanische Reich war zum Zeitpunkt  des Geschehens übrigens ein Verbündeter Deutschlands (!) – zu stellen. Aber man kann Ankara nicht vorschreiben, wann dies zu geschehen hat und ob es überhaupt passiert.  Auch hier plädiere ich für Gleichbehandlung.

Ein Blick in die deutsche Nachbarschaft, nach Frankreich oder Spanien, beides  katholische Länder, würde ausreichen, um festzustellen, dass Vergangenheitsbewältigung dort anders betrieben wird, als es die Deutschen gemacht haben und nun anscheinend von allen erwarten.  Mit Sicherheit gibt es ausgerechnet in den nordafrikanischen Staaten, in denen sich jetzt die Flüchtlingsdramen abspielen, viele Erwartungen an die einstigen Kolonialherren, ein Bedauern über begangene Missetaten zum Ausdruck zu bringen. 1961, als ich ein Gymnasiast  war, kam es in Paris zu einem Massaker, als die französische Polizei brutal gegen protestierende Algerier vorging. Hunderte von Demonstranten kamen dabei ums Leben, sie wurden erschossen, erschlagen und teilweise in der Seine ertränkt. Der zuständige Polizeipräfekt hatte mit den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg kollaboriert, er stieg im Anschluss an die verbrecherische Tat weiter auf und legte eine bemerkenswerte politische Karriere zurück.

Ich empfehle daher aus diesen und anderen Gründen, sich von Zeit zu Zeit an eine Anweisung zu erinnern, die sich auf  Notenblättern findet. <<mezza voce>> lautet der Hinweis: mit halber Stimme singen.