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Gesellschaft

Misshandlungen treiben viele Soldaten in den Selbstmord

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Das Militär galt in der Türkei lange als unantastbar. Gewalt während des Wehrdienstes wurde üblicherweise als „Abhärtung“ verharmlost. Nicole Pope spricht über menschenunwürdige Bedingungen und über das tragische Schicksal vieler Rekruten.

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Misshandlungen treiben viele Soldaten in den Selbstmord
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Von Nicole Pope*

Für die Medien waren bestimmte Themen, die das türkische Militär betreffen, bislang ein Tabu – vor allem, wenn sie als unvorteilhaft erschienen. Dieses Tabu lockerte sich in den letzten Jahren. Die Untersuchungen, die im Zuge des – durchaus schmutzige Details zutage bringenden – juristischen Prozesses zu möglichen Putschversuchen durchgeführt wurden, haben dem Ansehen des Militärs geschadet.

Die Effizienz des türkischen Militärs und auch die Art, wie seine Wehrpflichtigen behandelt werden, wurden in den letzten Jahren öffentlich infrage gestellt. Vorwürfe der Fahrlässigkeit kamen bereits auf, als unerfahrene Soldaten weitestgehend schutzlos den Angriffen der PKK in abgelegenen Stützpunkten ausgesetzt waren. Und der tragische Tod von Uğur Kantar sensibilisierte die Öffentlichkeit hinsichtlich der grausamen Misshandlungen von Soldaten. Der Gefreite Kantar starb im letzten Jahr in einer der äußerst berüchtigten, unter dem Namen „Disko“ bekannten Militäreinheit in Nordzypern, durch schwerwiegende physische Misshandlungen, die ihm wegen disziplinarischer Verstöße auferlegt wurden.

Der Militärdienst wird offensichtlich immer noch als ein Eckstein im Leben jeden Staatsbürgers gesehen, als notwendiger Ritus im Werdegang eines Jungen zu einem Mann – was nicht zuletzt auch die Nebenwirkung nach sich zieht, dass Frauen in die Riege der Bürgerinnen zweiter Klasse abgedrängt werden. Die Anschuldigungen, wonach Wehrpflichtige während des Militärdienstes oft misshandelt, beschimpft und gedemütigt werden, sind nicht neu. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Akzeptanz solchen Praktiken gegenüber schwindet.

Schläge, Demütigung, Tod – trauriger Alltag für Rekruten

Die „Initiative für die Rechte von Wehrpflichtigen“ ist eine zivilgesellschaftliche Gruppe, die im April 2011 damit begann, Menschenrechtsverletzungen gegenüber Soldaten zu dokumentieren. Diese Organisation veröffentlichte vor kurzem einen Bericht, basierend auf 432 Missbrauchsvorwürfen, die alleine im ersten Jahr der Recherche verzeichnet worden wären.

Fast die Hälfte aller Soldaten erwähnte, häufig Beleidigungen ausgesetzt gewesen zu sein, während 39 Prozent der Beschwerden das Erleiden von Schlägen betrafen. Die Rekruten berichteten außerdem, zu Aufgaben genötigt worden zu sein, die über eine normale Erschöpfung hinausgegangen wären, schilderten ebenfalls unangemessene Bestrafungen und Drohungen, während einigen von ihnen sogar der Zugang zur medizinischen Versorgung verweigert worden sein soll.

In diesem Jahr veröffentlichten die Behörden bereits Zahlen, die darauf hinwiesen, dass 2.221 (aktive) Soldaten seit dem Jahr 1990 Selbstmord begangen hätten. Aufmerksam macht dieser neue Bericht vor allem darauf, dass somit alle drei bis vier Tage ein Soldat Suizid begehe. Ein Schicksal, dass damit im Schnitt 100 jungen Männern pro Jahr zuteilwird. Doch während die Beerdigungen von Soldaten, die bei Zusammenstößen etwa mit der PKK getötet wurden, in den Medien beträchtliche Resonanz finden, werden viele Selbstmorde und Unfalltode von Wehrpflichtigen mit keiner Erwähnung gewürdigt. Die „Initiative für die Rechte von Wehrpflichtigen“ vermutet, dass in diesem Jahr bislang 32 Soldaten Selbstmord begangen hätten. Neben den bereits erwähnten jungen Männern, die sich das Leben nahmen, seien darüber hinaus seit 1990 auch 1.602 Wehrdienstleistende bei Unfällen der verschiedensten Art verunglückt.

Diese hohe Opferzahl hätte schon vor langer Zeit Anlass zu lautstarkem Protest geben sollen. Jedoch bleibt die Einstellung zur „nationalen Pflicht“ so tief verwurzelt, dass sich viele Menschen nicht trauen, solche brutalen Praktiken in Frage zu stellen, obwohl sie manchem jungen Mann das Leben gekostet und andere körperlich behindert oder emotional beeinträchtigt zurückgelassen haben sollen. Hüseyin Çelik, der stellvertretende Vorsitzende der AKP, gab letztes Jahr zu, dass „kein Mensch einem Wehrpflichtigen glauben würde, der behaupte, in der Armee nicht gepeinigt worden zu sein.“

Immer mehr Familien der Opfer gehen vor Gericht

Aber das Blatt scheint sich zu wenden und die Aktivisten der „Initiative für die Rechte der Wehrpflichtigen“ setzen ein Zeichen für eine veränderte Wahrnehmung der Geschehnisse. Die Familien der Opfer und die Wehrdienstleistenden, deren Rechte verletzt wurden, fordern nun, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Die institutionalisierte Kultur der Misshandlung in der Armee hat große Auswirkungen auf die Gesellschaft. Von der beleidigenden Sprache, die von Politikern gewöhnlich verwendet wird, bis hin zur häuslichen Gewalt, die trotz Gesetzesreformen zum Schutz für Frauen und Kinder in Not grassiert: Gewalt ist in der türkischen Gesellschaft allgegenwärtig. Um einen wirklichen Fortschritt im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu erreichen und eine tolerantere Gesellschaft zu fördern, muss die Türkei jenes Konstrukt von Männlichkeit überdenken, wie es durch ständige physische Misshandlungen und Demütigungen während des Militärdienstes geformt wird.

Militärübungen sind selten ein Spaziergang im Park, aber bis vor kurzem profitierten brutale Militäroffiziere von beinahe völliger Straffreiheit, wenn sie jungen Männern unnötiges Leid zufügten. Eine wachsende Anzahl an Menschen rebelliert nun gegen diese Mentalität und fordert, dass die Menschenwürde der Wehrpflichtige geachtet werden müsse. Die „Initiative für die Rechte von Wehrpflichtigen“ leitet die Klagen an die Menschenrechtskommission des Türkischen Parlaments weiter. Einige Soldaten brachten ihre Fälle bereits selbst vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

* Nicole Pope schreibt für die englischsprachige „Today’s Zaman“ und gilt als ausgewiesene Expertin der türkischen (Innen-)Politik.