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Gesellschaft

Dr. Schiffer: „Die Muslime befinden sich in einem großen Hexentest“

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Die Medienwissenschaftlerin Dr. Sabine Schiffer findet den nach den Pariser Terroranschlägen wieder aufgeflammten Distanzierungswettlauf unter Muslimen gefährlich. Die Muslime könnten hierbei nur verlieren. (Foto: dpa)

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Nach jedem terroristischen Anschlag kursieren gerade in den sozialen Medien Verschwörungstheorien über Tatmotiv, Hintergründe und Hergang. Die Medien- und Islamwissenschaftlerin Dr. Sabine Schiffer sieht die Lösung in ernsthaften und transparenten polizeilichen und rechtlichen Untersuchungen, die dann in sauberen Ergebnissen münden müssten.

Das Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo war wenige Stunden alt, da standen schon die Täter und ihre Motive fest. Die Terroristen waren Islamisten, sie hatten die Nase voll von den Karikaturen, die ihre Religion verunglimpften. So der einhellige Tenor in der Politik und den Medien. Was war richtig, was falsch an der medialen Darstellung?

Wenige Tage vergingen, da wurden die ersten Stimmen laut, Muslime mögen sich doch von den Gräueltaten distanzieren – für Schiffer ein „Hexentest“. Im Interview mit DTJ-Online spricht die Leiterin des Instituts für Medienverantwortung über die politischen und medialen Folgen des Anschlags vom 7. Januar 2015 und über die Ursachen, die es für Muslime nach derartigen Ereignissen fast unmöglich machen, sich richtig zu verhalten.

Im Zusammenhang mit dem Attentat auf Charlie Hebdo kursieren viele Verschwörungstheorien. Was sind berechtigte Fragen in Richtung der Geheimdienste und Polizei und was Verschwörungstheorien?

Was eine Verschwörungstheorie ist, kann man grundsätzlich erst nach Ermittlungen und Recherche wissen – nur verhindert dieses Label dieses offensichtlich vonseiten der Medien. Denn es konnte schon aufstoßen, dass man vor genauen Untersuchungen bereits Ergebnisse mitgeteilt bekam seitens der französischen Behörden. Etwa, wer die Geiseln im Supermarkt erschossen habe – sie könnten ja theoretisch auch bei der Befreiung umgekommen sein. Oder ob einer der ermittelnden Kommissare sich wirklich selbst umgebracht hat, wie es nach dem Fund seiner Leiche am Folgetag der Anschläge schon hieß. Auch wäre es inzwischen an der Zeit, die forensischen Untersuchungsergebnisse vorzulegen, weil bisher die Täteridentifikation beim Anschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion allein über einen gefundenen Personalausweis zu laufen scheint.

Wie kann man diese beiden voneinander trennen?

Es hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt, dass es neben Theorien über Verschwörungen auch tatsächlich Verschwörungen gab.

Können Sie Beispiele für Verschwörungen nennen?

Beispielsweise der Sturz des iranischen Premiers Mossadegh im Jahre 1953 war ein Coup amerikanischer und britischer Geheimdienste und kein spontaner Protest auf der Straße. Die rechtsextremen Anschläge in Italien (Stichwort: Bahnhof von Bologna) werden heute im Kontext von Gladio gesehen, also als Teil eines geheimen Netzwerkes der NATO. Inzwischen wird geprüft, inwiefern auch linksextreme Terroranschläge in Italien auf das Konto dieser Strukturen gehen – also etwa der Mord an Aldo Moro. Auch die Wiederaufnahme der Ermittlungen zum Anschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980 spricht für eine Verschwörung und weniger für die Einzeltäterthese.

Wer hier Glaubwürdigkeit erzielen will, muss – egal ob Polizei oder Staatsanwaltschaft – ernsthafte Untersuchungen und saubere Ergebnisse vorlegen und sonst immer deutlich machen, dass es sich um Vermutungen handelt. Von Medienseite stellt sich die Aufgabe anders. Sie als idealtypische Vierte Gewalt müsste natürlich alles kritisch hinterfragen, was verlautbart wird, und das geschieht eindeutig zu wenig und wenn, dann zu spät geschieht – dann sind die Frames und Labels gesetzt – kommt man oft nicht mehr aus den Rahmungen raus, wie wir ja aktuell wieder sehen.

Nun sind fast drei Wochen nach dem Anschlag vergangen. Was weiß man und was sind Spekulationen, die als Gewissheit verbreitet werden?

Ich kenne den genauen polizeilichen Ermittlungsstand nicht, sondern bin auf Medienberichte angewiesen – da kann man nur vorsichtig von Fakten sprechen, denn viel Spekulatives wird im Laufe der Berichterstattung und vielen Wiederholungen faktiziert, d.h. es erscheint als erwiesen, obwohl es das nicht ist. Lassen Sie mich das an einem Beispiel festmachen: Der Mediendiskurs suggeriert, wir würden die Motive der Täter kennen. Das ist vielleicht ansatzweise im Fall des Trittbrettfahrers Coulibaly der Fall, weil es ein Video von ihm gibt. Aber in Bezug auf die Charlie Hebdo-Attentäter beruft man sich auf Augenzeugenberichte und Ausrufe der Mörder. Nun kann aber jeder „Allahu Akbar“ rufen – oder es aber gehört haben wollen. Das ist noch kein Beweis für die Motive. Und die Rangelei um Bekennerorganisationen, die offensichtlich die Untaten für Rekrutierungszwecke nutzen wollen, sagt auch noch nichts über deren Echtheit aus. Und wenn das SITE Institut oder der IntelCenter die Internetveröffentlichungen auf Authentizität prüfen, ist erst recht Vorsicht geboten – deren Geheimdienstnähe ist hinreichend bekannt oder sollte es zumindest sein.

Was kann man über die politische Instrumentalisierung des Attentats sagen?

Zunächst glaube ich, dass die Einordnung solcher Taten eher als Reflex, denn als bewusste Steuerung ablaufen. Die Schablonen der Wahrnehmung waren vorbereitet: Islamisten kämpfen gegen die Meinungsfreiheit und westliche Satire. Nachdem nun aber nicht nur die Einteilung der Welt in Muslime und Nichtmuslime bestätigt und verstärkt wurde, fällt auf, dass das Thema von wichtigen Vertragsabschlüssen ablenkt und diese in den Hintergrund treten, TTIP & Co., und dass man im Schulterschluss mit Muslimen zum gemeinsamen Kampf gegen Terror und IS auch im Nahen Osten aufruft. Hier werden weitere Maßnahmen zur militärischen Kontrolle des rohstoffreichen Raums legitimiert. In dem Zusammenhang muss man auch die Proteste gegen das neue Cover von Charlie Hebdo sehen: Zu Ausschreitungen kommt es vor allem da, wo die Menschen neokolonial dominiert werden – das trifft auf Tschetschenien ebenso zu, wie auf bestimmte Regionen in Afrika.

Wie gehen Medien mit dem Attentat um? Kann man Lernprozesse im Vergleich zu der Berichterstattung nach dem 11. September beobachten?

Mir fiel zunächst das reflexhafte Verhalten im Vergleich zum sog. Karikaturenstreit auf. Anscheinend haben die wenigsten Kollegen in der Zwischenzeit recherchiert, was sich damals wirklich hinter den Kulissen abspielte. Man hat ja ein halbes Jahr gebraucht, um den Abdruck der Jyllands Posten zu skandalisieren und zu dem zu machen, was wir als Bilder im Kopf haben. 2005 wurden die Karikaturen in der ägyptischen Tageszeitung Al Fajr während des Ramadan abgedruckt ohne Reaktion. Meine Kollegin Xenia Gleißner und ich haben die Hintergründe für das Bilderlexikon des Jahrhunderts von Gerhard Paul ausgeleuchtet.

Die noch ungeklärten Sachverhalte im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 haben es zwar mal ins japanische Parlament geschafft, aber hier werden die offenen Fragen einfach mit dem Tabuisierungstrick „Verschwörungstheorie“ ausgeblendet. Die Medienrolle ist aber nicht, Herrschaftsdiskurse zu verlautbaren, sondern stets kritisch zu hinterfragen. Ohne einen solchen Journalismus wären die Manipulationen um das sog. Celler Loch nie aufgedeckt worden. Und dem Journalisten Ulrich Chaussy ist es zu verdanken, dass nun endlich das Oktoberfestattentat neu untersucht werden soll. Eine solche unabhängige und internationale Untersuchung darf man in Bezug auf 9/11 durchaus auch noch verlangen, wo ja im Commission Report nicht einmal der Einsturz des dritten Turms, WTC 7, Erwähnung fand, geschweige denn untersucht wurde.

Die muslimischen Verbände haben eine Mahnwache organisiert, an der auch die Kanzlerin und der Bundespräsident teilgenommen haben. War die Veranstaltung selbst und ihre Botschaft richtig?

Tja, Muslime befinden sich in einem großen Hexentest: Wirft man sie ins Wasser und sie gehen nicht unter, gelten sie als Hexe und werden verbrannt. Gehen sie unter, waren sie keine Hexen, wie schön. Das klingt jetzt hart, aber lassen Sie mich das erläutern: Distanzieren sich Muslime nicht öffentlich von derlei Untaten, wirft man sie damit in einen Topf. Distanzieren sie sich jedoch, ziehen sie sich den Schuh quasi an – sie ordnen sich damit aktiv in den Kontext von irgendwelchen „Allahu Akbar“-Rufern ein. Machen wir zwei Gegenproben: Sollen wir die Charta der Menschenrechte verwerfen, weil im Namen der Menschenrechte Kriege legitimiert werden? Und wer distanziert sich von diesem Missbrauch? Oder sollen sich alle Juden weltweit dazu erklären, wenn die israelische Regierung Gaza bombardiert? Wie kommt man dazu, alle Juden in so einem Fall in einen Topf zu werfen? Das geht doch nicht. Dennoch freut man sich freilich, wenn sich jemand davon distanziert. Das ist das gleiche Dilemma.

Bezüglich der Mahnwache am Brandenburger Tor sehe ich aber noch ein anderes Problem: Einerseits freut man sich, dass unsere Staatsoberen sich daran beteiligen und gemeinsam mit den aufrufenden muslimischen Organisationen und allen Bürgern, die gekommen sind, gegen Gewalt und Polarisierung demonstrierten. Andererseits stehen gerade sie für die Politik im Ausland, die zu Gewalt und Eskalation führt. Deutschland liefert Waffen und Soldaten in Gegenden, wo Konflikte nach westlicher Intervention entstanden sind. Und das will ich mal mindestens auf das Jahr 1953 zurückführen, als die iranische Regierung unter Mossadegh von westlichen Geheimdiensten ausgehebelt wurde.

Am folgenden Tage haben die Printmedien es vermieden, ein Gruppenfoto von der Bühne zu verwenden, auf der Politiker solidarisch mit Vertretern der Religionsgemeinschaften zu sehen waren. Steckt Absicht dahinter oder war es Zufall?

Wie kommen Sie darauf? Gibt es eine quantitative Auswertung der Bebilderung der Berichterstattung?

Ich habe mir mehrere relevante Tageszeitungen an dem Tag gekauft. FAZ, SZ, Tagespiegel und andere. Auf der ersten Seite war kein Gruppenfoto. Lediglich die Bild Zeitung hat auf der ersten Seite ein Foto verwendet auf dem die Demonstranten zu sehen sind.

Das kann natürlich sein, dass es nicht auf die Titelseiten gehoben wurde. Das würde für das sprechen, was Walter van Rossum immer für die Abläufe in deutschen Redaktionsstuben beschreibt. Es handelt sich um eine Art Klassenreflex, der bei solchen Platzierungsfragen zum Ausdruck kommen könnte. Es gab ja durchaus Fotos des gemeinsamen Auftritts und Schulterschlusses – wie gesagt, ich fand eher die Vereinnahmung in Richtung „Wir bekämpfen gemeinsam den Terrorismus“ problematisch. Was genau ist damit gemeint, müsste man fragen. Der „War on Terror“ à la George Bush hat schon viel Unheil angerichtet. Irgendwann kommt ein exportierter Krieg zurück, das kann man aus der deutschen Geschichte doch gut lernen – und es ist bedenklich, dass das Fazit „Nie wieder Krieg!“ inzwischen so löchrig geworden ist.