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Gesellschaft

„Mutter, bitte ändere dich!”

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Die jüngsten Ereignisse in Istanbul zeigen, dass sich die Menschen für ihre Rechte einzusetzen wissen. Individuell verleiht jeder Einzelne seiner Meinung einen Ausdruck, doch vergisst manchmal, dass die anderen auch eine Meinung haben. (Foto: cihan)

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„Mutter, bitte ändere dich!”
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In der türkischen Hauptstadt Ankara gibt es viele verschiedene öffentliche Verkehrsmittel.

Ich nutze vorallem die U-Bahn, genauer die Ankaray-Linie. Doch letzten Montag, als ich nach einem Meeting mit der Europäischen Investitionsbank, auf dem Weg nach Hause war, erlebte ich etwas sehr bedauerliches und völlig unverständliches.
Bevor ich Ihnen erzähle, was mich so aufgeregt hatte, lassen Sie mich versuchen eine Verbindung zu anderen kürzlichen Ereignissen aufzuzeigen.

Wenn Sie sagen, dass der Gezi-Park ein Park bleiben sollte, wenn Sie denken, dass ein Rauchverbot auf öffentlichen Plätzen gegen Ihre bürgerlichen Instinkte ist, wenn Sie sicher sind, dass man die Einschränkung des Alkoholverkaufs eine Verletzung Ihrer persönlichen Rechte darstellt, dann haben Sie als türkischer Bürger das Recht sich friedlich zu versammeln, sich in sozialen Medien zu organisieren oder Briefe an den Redakteur Ihrer favorisierten Zeitung zu schreiben.

Sie können sogar eine nichtstaatliche Organisation (NGO) gründen oder beitreten. Wenn Sie denken, dass dies noch nicht genug ist, können Sie eine politische Partei gründen und als Kandidat antreten, um Abgeordneter oder sogar Ministerpräsident zu werden. Natürlich weiß ich, dass die Option mit dem Brief sehr teuer und zeitraubend ist. Auch gelten Leserbriefe als Angewohnheit der „älteren Generationen“ und werden vor allem von Frauen bevorzugt, aber dennoch ist es ein grundlegendes Bürgerrecht. In jedem Fall ist der effektivste Weg Dinge nachhaltig zu verändern die Stimmabgabe an der Wahlurne.

Die beste Strategie einer NGO oder von Menschen, die sich als eine politische „Minderheit” sehen, ist es, sich Schritt für Schritt und mit diplomatischen Mitteln versuchen andere Bevölkerungsgruppen zu überzeugen, dass ihr (verbaler) Kampf und ihre politischen Ziele rechtmäßig sind.

So geschehen etwa in Deutschland, wo sich vor Jahren die Anti-Atomkraft-Bewegungen mit konservativen Landwirten (!) verbündeten und so die erste „Grüne Partei” Europas ins Leben gerufen wurde. Beispiele dafür sind auch nationale Jugend- und Studentenbewegungen, die zu anerkannten Partnern für die meisten europäischen Regierungen wurden (und nun teilweise staatlich finanziert werden!). Entwicklungen gab es in allen Bereichen des Lebens,einschließlich der Frage um die Ehe. Entwicklungen dieser Art waren bis vor einigen Jahren undenkbar (siehe Frankreich).

All diese Veränderungen haben eins gemeinsam: Sie geschahen nicht über Nacht und nicht durch Werfen von Steinen oder indem das Eigentum anderer Menschen zerstört wurde. Es funktionierte, da die NGOs zur stufenweisen Veränderung der öffentlichen Einstellungen beitrugen.

Provokante „Augensprache”

Zurück zum Untergrund in Ankara. Mein Waggon füllte sich nach dem Halt am zentralen Kızılay-Platz sehr schnell. Eine Frau mit Kopftuch setze sich in die Reihe vor mir. Eine andere Frau, die kein Kopftuch trug, ließ sich ihr gegenüber nieder. Die folgenden sieben bis acht Minuten starrte die letztere die Frau mit dem Kopftuch an, rollte betont auffällig ihre Augen, verspottete sie wortlos und benutze „Augensprache”, um jedem, der sie anschaute – inklusive der Frau mit Kopftuch – klarzumachen, dass ihrer Meinung nach türkische Frauen in der Öffentlichkeit kein Kopftuch tragen sollten.

Sogar als sie aufstand, warf sie ihr einen letzten verachtenden Blick zu, der sagte „was macht jemand wie Sie überhaupt in meinem Waggon?”. Ich hätte etwas gesagt, um die erste Frau zu verteidigen, doch ließ es dann doch bleiben mich in der Öffentlichkeit zu äußern. Stattdessen nehme ich nun in dieser Kolumne dazu Stellung.

Diejenigen, die für Individualismus und individuelle Freiheiten protestieren, sind jeder Zeit herzlich willkommen. Aber achten Sie darauf nicht kopflos die Ansichten der sog. „alten Garde” zu verteidigen, die den Frauen gesetzmäßig vorschrieben, was sie anziehen oder tun dürfen – und was nicht.

Diejenigen, die denken, dass ihr individueller Lebensstil in der heutigen Türkei auf dem Spiel steht, sollten einen Moment innehalten und sich nur folgende Frage stellen: Welche der beiden Frauen handelte ihrer Meinung nach gegen die Freiheit der jeweils anderen? Die erste Frau mit dem Kopftuch oder die Frau, die ihrer Umgebung wortlos aber unmissverständlich mitteilte, dass ihrer Meinung nach eine Frau kein Kopftuch tragen sollte und am besten „westlich” gekleidet sein muss?

Viele der wertvollen Gezi-Park Meinungen wurden missbraucht von einigen Gruppierungen, die denken, dass die AKP ihnen ihr Land weggenommen hat.

Ich hatte kein Mitleid mit der Frau mit Kopftuch. Sie schien stark zu sein und zu wissen, dass die Mehrheit der türkischen Bevölkerung gelernt hat, Schritt für Schritt zu akzeptieren, dass eine Frau sich so kleiden kann, wie sie es möchte – und nicht wie es ihr der Staat vorschreibt. Stattdessen empfand ich Mitleid für die „pseudo-westliche” Frau. Ich hoffe ihre Töchter oder ihre Kinder, ungeachtet des Geschlechts, werden ihr sagen: „Es ist Zeit sich zu ändern, Mutter!”