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Kolumnen

Kann man auf diese Türkei stolz sein?

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Türkische Schüler lernen in der Schule, stolz auf ihr Land zu sein. Bei vielen hält dieses Gefühl über die Schulzeit hinaus an. Es gibt aber viele Gründe, warum man auf die Türkei in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht stolz sein kann. (Foto: cihan)

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Die Schulkinder in der Türkei lernen, stolz auf ihr Land zu sein. Ob man stolz sein kann auf ein Land und nicht auf die eigenen Leistungen, sei dahingestellt. Einiges hat sich historisch entwickelt und niemand lebt unabhängig von überlieferten Verhältnissen. Man wird in Strukturen hineingeboren, übernimmt sie und führt sie mehr oder weniger (un)verändert fort. Niemand bleibt von ihnen unberührt, aber auch sie von den Menschen nicht.

Obwohl die Türken in der Schule lernen, stolz auf ihr Land zu sein, bietet das Land dafür immer weniger Anlass. Die Türkei hat es nicht vermocht, alle Landeskinder zufrieden an sich zu binden. Jahrzehntelang hat sie Asylanten statt Produktionsgüter exportiert. Einen Sozialstaat gab es bis vor kurzem nicht, obwohl die Verfassung einen vorsah. Ansätze vom Sozialstaat gibt es zwar heute, aber auch vieles, was dieser Idee widerspricht.

Abzocke auf Türkisch

So ist es heute beispielsweise so, dass Türken, die im Ausland leben, sich für die höchste Summe der Welt vom Wehrdienst freikaufen. Über 5000 Euro müssen sie dafür zahlen, unabhängig davon, ob sie Studenten aus wohlhabendem Hause oder ohne Ausbildung und Arbeit geblieben sind. Während sie oft selbst nicht einmal Ansprüche auf Sozialleistungen seitens des deutschen Staates haben, tritt der türkische Staat ihnen mit Verpflichtungen gegenüber.

Dabei bekommt heute über ein Drittel der türkischstämmigen Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz. Sie blicken in eine ungewisse Zukunft. Aber: Den türkischen Staat beeindruckt das nicht im Geringsten! Die Regierung Erdoğan hatte vor einiger Zeit sogar die Summe für den Freikauf vom Wehrdienst auf über 10 000 Euro erhöht. Diese wurde mittlerweile wieder auf 6000 Euro zurückgesetzt, bleibt aber trotzdem für viele unbezahlbar hoch.

Warum man an diesen hohen Summen festhält, wird nach und nach deutlich. Hohe Regierungsverantwortliche sind mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Vier Minister mussten zurücktreten, damit ihnen nicht weitere folgen müssen, wurde kurzerhand die Justiz entmachtet. Von Leuten, die hohe Summen zu nehmen gewohnt sind, muss man nicht unbedingt erwarten, dass sie die Nöte und Sorgen kleiner Leute verstehen.

Trotzdem ertragen die Türken diese Politik mit stoischer Ruhe. Auf die Erhöhung der Wehrdienst-Summe erfolgte kein Sturm des Protests. Allenfalls machten sich hier und da kleine Regungen deutlich. Betrachten sie Entscheidungen des Staates ähnlich wie Schicksalsschläge, die man einfach ertragen muss? Haben sie sowieso keine Hoffnungen, irgendetwas zu bewirken? Jedenfalls spricht diese Haltung nicht unbedingt für eine ausgeprägte Bürgermentalität.

Stellen Sie sich mal dies in anderen Ländern vor! In Deutschland würde man angesichts einer solchen Politik von Abzocke und Politikverdrossenheit reden, befürchten, die Bürger könnten aus Ärger ihr Kreuz bei den Rechtsextremen machen. Die Franzosen würden auf die Barrikaden gehen, eine zweite Französische Revolution anzetteln. Die Griechen würden in einen unbefristeten Streik treten, die Araber eine westliche Verschwörung vermuten. Die Finnen würden sich in ihren Saunas verbarrikadieren und nicht mehr rauskommen, zumindest bis zum Ende der Winterzeit.

Republik Fest Tuerkei

Wäre Erdoğan ein Autor in Deutschland…

Zu all dem kommt der Faktor Erdoğan hinzu, dessen Reden seit dem Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe von sehr vielen als Hasspredigten wahrgenommen werden. Wäre er nicht Ministerpräsident der Türkei, sondern irgendein Autor mit türkischen Wurzeln in Deutschland, würden ihn rechtsextreme und islamophobe Kreise als ihren neuen Star feiern. Er würde einen Sarrazin oder Akif Pirinçci vermutlich in den Schatten stellen.

Was mehr verstört als Erdoğan: Seine Politik des Spaltens statt Versöhnens, der wilden Verschwörungstheorien, des Denunzieren von Personen, die sich ihm nicht unterwerfen wollen, das Unterbinden von Korruptionsermittlungen… Ja, all das findet die Zustimmung fast der Hälfte der türkischen Wähler! Soll man darauf stolz sein? Soll man das Leben nur aus Sicht des Geldbeutels betrachten? Wo bleiben Prinzipien, wo bleibt die Ethik?

Nein, darauf kann man nicht stolz sein. Man kann ein Land lieben, sich mit ihm freundschaftlich verbunden fühlen. Alles gut zu heißen, sich mit allem zu identifizieren, was ein Land ausmacht, das geht aber nicht. Manche sagen, in dieser Form hätte die Türkei keinen Platz in der EU. Es stehen aber die Glaubwürdigkeit moralischer Autoritäten, das Vertrauen in die Justiz, die politische Kultur auf dem Spiel – was bedeutet dagegen diese EU-Geschichte?