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Gesellschaft

NSU: „Nicht nur der Staat – auch die Medien haben versagt“

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Wer erinnert sich nicht an die „Döner-Morde“? Der Begriff wurde 2011 zum Unwort des Jahres gewählt. Die Linguistin Derya Gül-Şeker ist der Auffassung, dass die Medien in der NSU-Berichterstattung versagt haben. (Foto: dpa)

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Der Name Halit Yozgat steht am 25.09.2013 neben weiteren Namen der NSU-Mordopfer auf einem Gedenkstein in Kassel (Hessen). Der Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags zum NSU-Mord in Kassel hört am 19.02.2015 in öffentlicher Sitzung Experten an.
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Wieso konnten die Morde der sogenannten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) über Jahre hinweg nicht aufgedeckt worden? Wer hat wann was falsch gemacht? Was ist die Rolle der Sicherheitsbehörden? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigen sich seit 2011 mehrere politische Ausschüsse, Richter und Staatsanwälte, Medien und nicht zuletzt die gesamte Öffentlichkeit.

Eine andere Frage, die nach Antworten sucht, ist die nach der Rolle der Medien. In einer Demokratie haben sie als vierte Gewalt die Aufgabe, dem Staat genauer auf die Finger zu schauen, um eventuelle Fehlentwicklungen und Missstände aufzuzeigen. Haben sie das in der Berichterstattung über die NSU-Morde getan?

Mit dieser Frage, die in der Öffentlichkeit nicht ausreichend genug diskutiert wurde, hat sich eine Studie der gewerkschaftsnahen Otto Brenner Stiftung beschäftigt. Ein Team aus Wissenschaftlern, zu der auch die Linguistin Dr. Derya Gül-Şeker von der Universität Essen angehörte, haben über 300 Berichte aus deutschen und türkischen Meiden unter die Lupe genommen. Wir sprachen mit ihr über die Ergebnisse der Studie, die den Betroffenen rechter Gewalt in Deutschland gewidmet ist.

Frau Gül-Şeker, Sie haben ein Gutachten über die Berichterstattung zum NSU erstellt. Wie sind sie methodisch vorgegangen und wer hat das Gutachten in Auftrag gegeben?

Die Studie wurde vom Autorenteam bei der Otto Brenner Stiftung beantragt und von dieser bewilligt. Sie wurde also nicht „in Auftrag gegeben“, sondern vom Autorenteam wie in der Wissenschaft meist üblich als Drittmittelprojekt eingeworben. Die Studie ist methodisch der wissenssoziologischen Diskursanalyse zuzuordnen, die bestimmte Deutungsmuster im Kontext der Serienmorde über Textsammlungen zu erschließen versucht. Auf Basis von über 300 deutsch- und türkischsprachigen Medientexten wurde der Frage nachgegangen, durch welche Merkmale sich die Berichterstattung über die Mordserie vor Bekanntwerden der NSU-Täterschaft sich auszeichnet.

Der Fall ist November 2011 an die Öffentlichkeit gedrungen. Was kann man über die Berichterstattung in den 10 Jahren davor sagen?

Die Studie hat bestimmte wiederkehrende und kennzeichnende Merkmale der Berichterstattung herausgearbeitet. So wurde deutlich, dass die Berichterstattung der Medien sich an den Informationen der ermittelnden Behörden und Akteuren orientiert hat. Informationen oder insbesondere Mutmaßungen dieser in Bezug auf die Gründe, Ursachen und Täter der Mordserie wurden meist nicht hinterfragt und in die Berichterstattung übernommen. Als dominante SprecherInnen sind in dem von uns untersuchten Material insbesondere die besagten Akteure der ermittelnden Behörden wie z. B. Leiter der Sonderkommission, Polizei, Polizeisprecher oder Akteure der Staatsanwaltschaft auszumachen.

Und die Opferfamilien? Kommen Sie in der Berichterstattung zu Wort?

Personen aus dem Kreise der Opferfamilien kommen kaum zu Wort.

Nachdem der Fall öffentlich wurde, haben alle vom Versagen des Staates gesprochen. Wenn man ihre Studie liest, muss man auch von einem Versagen der Medien sprechen.

Das „Medienversagen“ zeigt sich in der Verbreitung von Mutmaßungen, die von staatlichen Akteuren in den Diskurs eingespeist und von den Medienakteuren nicht gezielt hinterfragt wurden, sondern meist sogar als Tatsachen bzw. vermeintliche Fakten dargelegt wurden, obwohl nur Mutmaßungen vorlagen. Das Hinzuziehen anderer Quellen, Perspektiven oder Professionen (z. B. wissenschaftliche Experten) wäre an vielen Stellen notwendig gewesen.

Es gab ein enormes Medieninteresse. Hat dieses Interesse auch tatsächlich zu einer Aufklärung geführt?

Die Studie hat sich auf die Zeit vor Bekanntwerden der Terrorgruppe konzentriert, daher kann ich diese Frage nicht beantworten. Aufklärung hat es sicherlich in Bezug auf die Medienreflexion gegeben, die zeigt, dass journalistische Akteure sich nach Bekanntwerden durchaus gefragt haben, welche Fehler gemacht wurden; zum Beispiel auch in Bezug auf die verwendete Sprache.

Wie stark werden in der Berichterstattung Pressemitteilungen von Sicherheitsbehörden und Ministerien unkritisch wiedergegeben?

Die Auswertung des Textmaterials hat eine starke Dominanz der Sprecherpositionen dieser Akteursgruppe ermittelt. So finden sich in diesem Kontext direkte Zitate (z. B. Soko-Leiter Geier, Polizeisprecher) oder Paraphrasen von Aussagen dieser. Es ist insgesamt eine Übernahme polizeilicher Deutungsmuster in die Berichterstattung auszumachen.

Worin unterscheidet sich die Berichterstattung in den deutschen Medien von der in den türkischen?

Eigentlich sind keine große Unterschiede auszumachen. Auch die türkischen Medien haben Aussagen der Ermittlungsbehörden unhinterfragt in die Berichterstattung aufgenommen. Im Unterschied zu den deutschsprachigen Redaktionen war die Ausstattung der türkischen Medien nicht ausreichend, um eine breite Berichterstattung zu gewährleisten, was natürlich nicht die schließlich fehlende Meinungs- oder Perspektivenvielfalt entschuldigt. Von Bedeutung ist, dass die türkischen Medien neben ihrem Vertrauen in die ermittelnden deutschen Behörden sich verstärkt auch an der Berichterstattung der deutschen Medien (z.B. Spiegel, Bild, aber auch Aktenzeichen XY etc.) orientiert haben. So wurden bestimmte Spiegel-Thesen ein zwei Tage später auch durch übersetzte direkte Zitate in die türkische Berichterstattung übernommen. Im Unterschied zur deutschen Berichterstattung finden sich beim Gebrauch der stigmatisierenden und ausgrenzenden Bezeichnung „Döner-Morde“ jedoch vorwiegend Distanzierungsmittel in Form von Anführungszeichen oder eindeutiger Zuordnung als in Deutschland verwendete Bezeichnung.

Kann man von einer eigenständigen Berichterstattung der türkischen Medien sprechen oder schreiben sie von den deutschen Medien ab?

Natürlich kann von einer eigenständigen türkischen Presse die Rede sein, die in Bezug auf die Berichterstattung über die Mordserie jedoch nicht über ausreichende Ressourcen (Anzahl der Journalisten, die einem Thema nachgehen, Qualifikation, Ausbildung, hauptberufliche Festanstellungen etc.) verfügte. So finden sich bei Durchsicht des Textmaterials (über 60 Texte) wiederkehrend dieselben AutorInnen, die über die Mordserie berichtet haben. Das Phänomen, dass Medien sich gegenseitig „beobachten“ und auch den Leitmedien ein Vertrauen entgegenbringen, ist allerdings medientypisch und nicht nur den türkischen Medien vorzuwerfen.

Das Interesse an dem NSU-Fall hat enorm nachgelassen. Wir berichten als DTJ regelmäßig über die Verhandlungen in München. Die Artikel werden kaum gelesen. Woran liegt das?

Dies liegt einerseits natürlich an der Tagesagenda der Medien; es gibt immer Themen, die von weiterreichender Konsequenz und Bedeutung zu sein scheinen (mögliche Kriege, Finanzkrisen etc.). Andererseits liegt dies möglicherweise daran, dass sich viele des „Staats- und Medienversagens“ im Kontext der NSU-Mordserie nicht bewusst sind. Ich denke, dass der NSU-Fall allerspätestens bei Bekanntgabe der Gerichtsentscheidung international wieder an Bedeutung gewinnen wird – ab da wird es, so ist zu hoffen, auch eine verstärkte öffentliche Debatte über Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile gegenüber Minderheiten in Deutschland und auch im Journalismus geben.

Gibt es eine Selbstkritik der Medien? Wenn ja, unterscheidet sich die der türkischen Medien von der der deutschen Medien?

Die Studie hat sich verstärkt auf die Medienreflexion der deutschsprachigen Medien fokussiert. Hier finden sich kritische Stimmen zum Sprachgebrauch (z.B. sogenannte „Döner-Morde“), die Vorurteile widerspiegeln, aber auch Vorurteilen gegenüber Migranten, die zu dieser Form der Berichterstattung geführt hätten. „Schließlich geht Heike Kleffner (in: Vocer 2013) explizit darauf ein, dass Vorurteile von JournalistInnen, „insbesondere gegenüber türkischen Männern“, eine Rolle bei der Berichterstattung gespielt hätten.“ (OBS-Studie, S. 56). Gleichzeitig finden sich in den von uns geführten Interviews kritische Beurteilungen der journalistischen Ressourcen. Die kritische Selbstreflexion der türkischen Medien hat die Studie leider nicht untersucht.

Was ist ihre Empfehlung an die (türkischen) Medien?

Kritischer zu sein und unterschiedliche Perspektiven, Meinungen, Expertenwissen einzuholen. In die Ausbildung der türkischsprachigen Journalisten in Deutschland, die zweisprachig sind und ein muttersprachliches Niveau in beiden Sprachen erreichen, zu investieren. Gezielter Ausbau und nicht Abbau ihrer Redaktionen in Deutschland. Von Relevanz ist aber, dass sie bei Themen, die die migrantische Bevölkerung betreffen, auch mit diesen Gruppen sprechen und diesen eine „Stimme“ geben bzw. ihnen die Möglichkeit geben, im Mediendiskurs „gehört“ zu werden.