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Panorama

„Nichts zu verlieren“ – Flüchtlinge trotzen türkischen Kontrollen

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Nach Wunsch der EU soll die Türkei für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa erst einmal die Endstation sein. An der türkischen Westküste greifen Polizei und Militär durch – doch einige Flüchtlinge lassen sich davon nicht aufhalten.

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Eine steinige Straße schlängelt sich zwischen den Olivenbäumen den Küstenhang hinunter. Am Wasser angekommen erstreckt sich ein Strand, Wellen schwappen über die Steine. Doch der Anblick ist keine Urlaubsidylle. Eine Gruppe von Flüchtlingen sitzt unter einem Baum, eng zusammengerückt. Neben ihnen bewaffnete Soldaten und Polizisten. „Wir hatten uns zwischen den Bäumen versteckt, aber sie haben uns trotzdem gefunden“, sagt die Syrerin Nadia. Sie will nach Europa. Doch hier, am Strand nahe Ayvacık im Westen der Türkei, zerplatzt ihr Traum.

Nadia, die ihren vollen Namen nicht nennen möchte, weiß, was sie nun erwartet. Die 45-Jährige aus Aleppo im Norden Syriens wirkt erschöpft, als sie erzählt, dass sie schon dreimal den Versuch gestartet hat, von der türkischen Küste aus die nur rund zehn Kilometer entfernte griechische Insel Lesbos zu erreichen. Dreimal brachten Schleuser sie von Istanbul nach Ayvacık. Zweimal schaffte sie es sogar auf ein Schlauchboot, ehe die Küstenwache die Flüchtlinge aufhielt.

„Dieses Mal war es aber anders. Als wir an der Küste ankamen, war kein Mensch da“, sagt die Syrerin. Kein Schleuser wartete am Strand auf sie. Auch kein Boot. Ihr und den anderen Flüchtlingen blieb nur, sich zwischen den Olivenbäumen zu verstecken, die den Strand umgeben. Wenige Stunden später fand die Polizei sie.

Die Türkei ist das wichtigste Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. Etliche wählen die Route von Ayvacık nach Lesbos. Von mehr als 720 000 Menschen, die bisher in diesem Jahr von der Türkei aus über das Meer nach Griechenland kamen, sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 500 000 auf Lesbos angekommen.

Nur wenige Tage vor Nadias drittem Versuch hatten die EU und die Türkei bei einem Sondergipfel einen Aktionsplan beschlossen, um den Zustrom von Flüchtlingen einzudämmen. Die EU hat Ankara dafür unter anderem Finanzhilfen in Höhe von drei Milliarden Euro in Aussicht gestellt.

Härteres Vorgehen seit EU-Türkei-Gipfel

Seitdem hat die Türkei Medienberichten zufolge ihr Vorgehen gegen illegal in die EU reisende Flüchtlinge verschärft. Mindestens 3000 Flüchtlinge wurden laut der Nachrichtenagentur DHA in der vergangenen Woche an der Überfahrt von der Region Ayvacık nach Lesbos gehindert. Auch seien 35 mutmaßliche Menschenschmuggler festgenommen worden.

Dies hat einige Flüchtlinge wohl abgeschreckt. Das verschlafene 8500-Seelen-Dorf Ayvacık war bis vor kurzem noch ein Drehkreuz für Flüchtlinge, die nach Europa wollten. Am Busbahnhof kamen viele von ihnen an. Bewohner warnten davor, zu nah an die Küste zu gehen, da Schleuserbanden die Gebiete kontrollierten. Wenn gefragt, wo Flüchtlinge sich aufhalten könnten, zucken die Bewohner nun mit den Schultern. In dem kleinen Urlaubsort Assos, wenige Kilometer entfernt, gehen elegante Türkinnen in den Hotels ein und aus. Bis vor einer Woche waren hier noch viele Flüchtlinge, sagt ein Hotelbesitzer. „Jetzt sind sie weg.“

Die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die in Griechenland ankommen, ist griechischen Sicherheitskräften zufolge in den vergangenen Tagen zurückgegangen. „Dennoch ist es noch kein solch starker Rückgang, wie wir ihn erwartet haben“, sagt ein Offizier der Küstenwache. Die Zahlen der IOM für vergangene Woche lassen ebenfalls keinen massiven Rückgang erkennen. Demnach sind bis Donnerstag täglich weiterhin insgesamt rund 4500 Menschen über „die blaue Grenze“ nach Griechenland gekommen.

Der freiwillige Helfer Aris Vlahopoulos und die Hamburger Hilfsorganisation „More than shelters“ auf Lesbos registrieren vielmehr, dass die Flüchtlinge nun andere Routen wählen. Während sie bisher über die kürzeste Meeresstrecke im Norden der Insel landeten, kommen sie nun weiter südlich an. „Diese Strecke ist viel länger und gefährlicher“, sagt Vlahopoulos.

„Es ist wie, wenn man Teig in der Hand zerquetscht“

Der Bürgermeister von Ayvacık hat eine ähnliche Ansicht. „Es ist wie, wenn man Teig in der Hand zerquetscht“, erklärt Mehmet Ünal Şahin. „Die Masse quillt dann an den Seiten raus.“ Şahin ist davon überzeugt, dass die Flüchtlinge wieder nach Ayvacık zurückkehren werden, sobald sich die Kontrollen lockern. „Sie haben nichts zu verlieren.“

Nadia lässt sich von den verschärften Kontrollen nicht beirren. „Das Meer trennt mich von meiner Familie“, sagt sie. Ihre tapfere Miene bröckelt, Tränen laufen. Vor zwei Monaten schafften ihre zwei Töchter und Ehemann es nach Deutschland. Sie blieb als einzige der Familie in der Türkei zurück, weil das Flüchtlingsboot zu voll war, erzählt sie. „Ich werde es aber wieder versuchen.“ Immerhin bezahlt sie die Schleuser nur einmal, erklärt die 45-Jährige. 1000 Dollar pro Erwachsener für die Überfahrt nach Griechenland, egal, wie viele Anläufe man braucht.

Die Gruppe Syrer wird von der Polizei in einem Minibus vom Strand zur Polizeistation gebracht. Ohne auszusteigen werden sie registriert, Name und Geburtsalter werden aufgeschrieben. Andere Flüchtlinge kommen oftmals zunächst in ein Rückführungslager knapp außerhalb von Ayvacık. Auf einem kargen, umzäunten Hof zwischen zwei Gebäuden sind dort an diesem Tag rund 30 Menschen; manche stehen gelangweilt rum, andere spielen Fußball. Sie alle warten darauf, dass sie weggebracht werden. Wohin, sagen die Polizisten nicht. Fragen sind ohne Genehmigung nicht erwünscht.

Die Sonne ist untergegangen, es ist kalt an diesem Dezembertag. Die Flüchtlinge müssen dahin zurück, wo sie herkamen, nach Istanbul. „Das Ticket müssen wir uns selber kaufen“, sagt Nadia. Einer nach dem anderen steigen sie in den Bus. Zwei der syrischen Kinder haben noch immer ihre Schwimmwesten an. Es wird wohl eine Weile dauern, bis Nadia ihren nächsten Versuch starten kann. (dpa/dtj)