Connect with us

Politik

Niemand hat die Absicht, eine Diktatur zu errichten

Published

on

Spread the love

KOMMENTAR Die Aussichten sind miserabel. Alle, die gehofft haben, dass sich auf absehbare Zeit wider aller Erwartungen doch noch etwas zum Besseren wenden könnte, müssen jetzt der Wahrheit ins Auge blicken: Die Türkei ist nun auch ganz offiziell eine Diktatur mit dem Anstrich einer Demokratie. Recep Tayyip Erdoğan wird die nächsten Wochen und Monate dazu nutzen, alle aus dem Weg zu räumen, die ihm nicht ergeben sind. Ungefähr 400 Generäle, Offiziere und Soldaten sollen der Einschätzung von Sicherheitsexperten zufolge in die Putschpläne involviert gewesen sein. Demgegenüber geht die Zahl der Menschen, die verhaftet, suspendiert, entlassen wurden, auf die 70 000 zu. 3,5 Millionen Menschen dürfen das Land vorerst nicht mehr verlassen, weil sie Akademiker oder Staatsbedienstete sind. Wenigstens schien Erdoğan zu wissen, dass sie das tun wollen würden. Staatliche und gesellschaftliche Institutionen werden nun konsequent von Dissidenten gesäubert.

Die Worte der Regierung, man werde „keinen Schritt von der Demokratie abweichen“, sind blanker Hohn und stehen in der Tradition von Walter Ulbrichts „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“.

Bisher musste man immer auf das Beste hoffen und mit dem Schlimmsten rechnen – regelmäßig kam es schlimmer als das, womit man gerechnet hatte. Der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmuş hat gestern bekanntgegeben, dass die Europäische Menschenrechtskonvention in der Türkei in Teilen außer Kraft gesetzt ist. Wahrscheinlich ist es an der Zeit, blauäugige Hoffnungen aufzugeben, dass es jetzt „schon nicht so schlimm werden wird“.

Es ist jetzt keine große Frage der Interpretation mehr, was in der Türkei vor sich geht. Die kläglichen Reste der türkischen Demokratie werden nun zu Grabe getragen. Und im Windschatten dieser Ereignisse wird auch in Deutschland der Hass der AKP-Fanatiker sichtbarer denn je, in Kommentarspalten genauso wie auf der Straße.

Gegen Erdoğan zu sein, bedeutet nicht, für den Putsch zu sein

Menschen, die zu großen Teilen hier geboren und aufgewachsen sind, überschütten alle, die es wagen, Erdoğan und seine „neue Türkei“ zu kritisieren, mit Häme, Hass und vulgären Beschimpfungen. Der Großteil dieser Menschen wurde hier sozialisiert, hat hier seine Schulbildung genossen – zu der auch die grundlegende staatsbürgerliche Erziehung gehört. Sie sollten schlichtweg wissen, was Grundrechte sind, warum sie wichtig sind, welche Bedeutung Gewaltenteilung zukommt – dass Demokratie mehr ist, als Wahlen zu gewinnen und dann über die Minderheit zu herrschen.

Und in der Türkei ist die Faktenlage eindeutig: Die Grund- und Menschenrechte werden seit Jahren kontinuierlich verletzt und beschnitten, der gesamte Staatsapparat systematisch in die Hände einer einzigen politischen Gruppe überführt, ein System aus Spitzel- und Denunziantentum aufgebaut. Das alles kann und muss man sehen, wenn man sich mit der Politik in der Türkei auseinandersetzt. Das wollen aber Hunderttausende von Deutschtürken schlicht nicht wissen oder leugnen es gar wissentlich. Stattdessen stellen sie sich mit aggressivem Fanatismus auf eine Seite; Grautöne gibt es dabei nicht, differenziertes Denken und Argumentieren ist nicht en vogue. Dafür Rassismus, glühender Nationalismus und faschistoide Hetze, die immer häufiger bis hin zu widerwärtigsten Todesdrohungen reicht.

Die (Mit-)Schuld der deutschen Mehrheitsgesellschaft

Natürlich hat das mit der identitätsstiftenden Rolle zu tun, die Erdoğan für große Teile der konservativen türkischen Community in Deutschland spielt. Mit Türken, die sich ihr Leben lang nicht zu Unrecht diskriminiert fühl(t)en, und seit zehn Jahren ein neues Gefühl des Stolzes vermittelt bekommen. Daran trägt die deutsche Mehrheitsgesellschaft eine definitive Mit-, wenn nicht sogar Hauptschuld. Und ja, es hat auch etwas mit gescheiterter Integration zu tun, wenn ein Teil der türkischen Community sich ausschließlich über die gleichgeschaltete türkische Propagandapresse informiert. Hinzu kommt, was Ali Ertan Toprak, der nicht immer unumstrittene Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde, passenderweise als „türkische Pegida“ bezeichnet hat: Eine Vorliebe für Verschwörungstheorien, der Hass auf die sogenannte „Lügenpresse“ (zu der im Prinzip jedes Medium gehört, das nicht so berichtet, wie man es hören will) sowie ein ausgeprägter Anti-Intellektualismus.

Wer sich angesichts der Ereignisse in der Türkei auf die Seite der Unterdrücker stellt, wer sich anstatt für demokratische Grundrechte für einen Vernichtungsfeldzug eines Diktators gegen seine politischen Gegner einsetzt, wer die geplante Einführung der Todesstrafe feiert, wer Andersdenkenden mit Gewalt und Tod droht, der steht nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Und nein, das ist kein AfD-Duktus. Die, die am meisten unter all dem leiden, sind nicht die Altdeutschen, sondern die aufgeklärten, demokratisch denkenden Türken und Kurden in Deutschland, unabhängig von ihrer politischen oder religiösen Ausrichtung.

Erdoğan gleich Türkei, gleich Islam, gleich Umma?

Nicht nur, weil sie selbst Opfer dieser Hetze sind, sondern weil sie ebenfalls in die Haftung genommen werden. Man muss sich nur einmal auf Seiten wie der unseren umsehen, um in den Kommentarspalten das Vorurteil des aggressiven und fundamentalistischen Türken vermeintlich bestätigt zu bekommen. Vernünftig denkende Menschen wissen das einzuordnen und ziehen daraus keine falschen Schlüsse. Aber wir leben in Zeiten, in denen ein vorbestrafter Drogenhändler aus Dresden mit dümmster Anti-Islam-Hetze Zehntausende hinterm Ofen hervorlockt und eine Partei, die vor dubiosen Gestalten überquillt, ebendiese Hetze salonfähig macht und in die Parlamente trägt. Über sowas denken die allermeisten der glühenden AKP-Fanatiker aber nicht nach, wenn sie ihrem Hass freien Lauf lassen. In jenem Maße, in dem sie Erdoğan lieben (den sie mit der Türkei, dem Islam und der Umma gleichsetzen), verabscheuen sie alle seine Kritiker, die dann automatisch auch gegen die Türkei, den Islam und die Umma sind.

Um den demokratischen Konsens geht es ihnen nämlich nicht. Minderheitenrechte sind für sie nur dann wichtig, wenn sie sich selbst in der Minderheit wähnen.