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Panorama

Brennende Haare und durchbohrte Schenkel: Der Moment der Explosion

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Eine Explosion, 700 Nägel und lauter ungeklärte Fragen: Der NSU-Prozess dauert bald zwei Jahre. Erst jetzt wurden Opfer des Nagelbombenanschlags gehört. Vor Gericht erzählten Überlebende von ihrem Leben – und Leiden, das nie ganz endet. (Foto: dpa)

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Ein Polizist sichert in Köln die Spuren einer Explosion in der Keupstraße (Archivfoto vom 09.06.2004). Am 20.01.2015 ist der Anschlag Thema im NSU-Prozess in München (Bayern).
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Am 9. Juni 2004 war er rein zufällig in der Keupstraße, wollte nur „Döner essen gehen“, wie er sagt. Doch auf dem Rückweg zum Auto knallt es „auf einmal“ ganz gewaltig. Sandro D. reißt es die Beine weg. Seinem Freund Melih K. stecken plötzlich hundert Splitter im Gesicht. Beide können augenblicklich nichts mehr hören.

Das abgestellte Fahrrad vor dem Friseurladen in Haus Nummer 29 hatten die beiden Freunde ebenso wenig bemerkt wie den Koffer auf dem Gepäckträger. Aus ihm schießen mehr als 700 Zimmermannsnägel wie Gewehrkugeln durch die Straße. Eine Stichflamme verbrennt alles in einem Umkreis von wenigen Metern. Sandro D. und Melih K. stehen mittendrin.

Brennende Haare und durchbohrte Schenkel

Den Moment der Explosion der Nagelbombe in der Kölner Keupstraße wird der heute 34-Jährige Sandro D. niemals vergessen. Danach ist nichts mehr wie zuvor: Er schlägt mit dem Hinterkopf auf das Kopfsteinpflaster auf. Zehn Zentimeter lange Nägel bohren sich in seinen Körper. Er erleidet Verbrennungen zweiten Grades.

Melih K.s Haare brennen lichterloh. Neun der langen Nägel durchbohren seinen Körper an verschiedenen Stellen. Am Oberschenkel dringen sie zum Teil bis zum Knochen ein. Dass sie ihn nicht in den Kopf oder den Oberkörper der Opfer bohren, ist reine Glückssache. Sein Trommelfell verbrennt.

Trauma und Therapien

Sandro D. und Melih K. mussten mehrfach operiert werden. Ihre Körper sind durch Narben entstellt. Die Wunden sind zwar heute nicht mehr sichtbar, aber das Gefühl der ständigen Bedrohung bleibt. Beide begeben sich nach dem Anschlag in der Keupstraße in Psychotherapie. Doch die Ungewissheit über die Täter verhindert ihre vollständige seelische Genesung.

Bis heute leidet Sandro D. unter den Folgen. Als er 2011 erfuhr, dass der sogenannte NSU hinter der Tat steckte, begibt er sich erneut in psychologische Behandlung. Doch durch den Prozess komme alles wieder hoch. Die neue Psychotherapie beginne erst nach seiner Aussage vor Gericht.

Ermittler verdächtigen Opfer

Sandro D. ist es, der dem Gericht schildert, wie er in den Folgewochen durch die Ermittlungen belastet wurde. Er und Melih K., die Opfer, wurden bereits kurz nach dem Anschlag im Krankenhaus von Polizisten verdächtigt, den Nagelbomben-Anschlag selbst verübt zu haben. Kein Ermittler fragt sie je nach ihren Vermutungen bezüglich der Täter.

Die Hauptangeklagte im Prozess, Beate Zschäpe, scheint die Aussagen der Opfer komplett kalt zu lassen. Sie schweigt und sitzt nur stumm da. Ihr Gesicht versteckt sie hinter ihren Haaren, die sie offen trägt. Eine Regung ist nicht zu erkennen, so wie bei keinem, der auf der Anklagebank im Münchener Oberlandesgericht Platz nehmen muss. Am Ende der Vernehmung lächelt Zschäpe sogar und verabschiedet sich von ihren Verteidigern. Sandro D. sieht zerknirscht aus.

In den kommenden Wochen will das Gericht alle 22 Opfer des Anschlags als Zeugen befragen. Die Beweisaufnahme könnte noch Monate dauern. Doch eine lückenlose Aufklärung verlangt gegebenenfalls eine Verlängerung. Denn der 175. Verhandlungstag zeigt: Im sogenannten NSU-Prozess geht es um die, denen der Terror galt. Um Menschen – egal ob deutscher, türkischer oder anderer Herkunft.

Die schreckliche Bilanz des NSU

Die Terrorgruppe des sogenannten NSU soll von 2000 bis 2011 aus Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos bestanden haben. Die beiden mutmaßlichen männlichen Mitglieder der Gruppe sollen acht türkischstämmige und einen griechischen Händler sowie eine Polizistin getötet und 14 Banken in Chemnitz, Zwickau, Stralsund und Arnstadt überfallen haben.

Zschäpe ist seit 2013 wegen Mittäterschaft in zehn Mordfällen, besonders schwerer Brandstiftung und Mitgliedschaft in und Gründung einer terroristischen Vereinigung vor dem Münchener Oberlandesgericht angeklagt.

Mittlerweile haben die Taten des sogenannten NSU fünf Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Länderebene beschäftigt und unzählige Entlassungen und Rücktritte verursacht. Wirkliche Erkenntnisse bleiben jedoch rar und Verschwörungstheorien zugleich beliebt.