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Politik

NSU-Untersuchungsausschuss: Kein Versagen, sondern Verdacht auf gezielte Sabotage

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Der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags wirft viele Fragen auf. Dort heißt es etwa, die Häufung falscher Entscheidungen lasse den Verdacht auf gezielte Sabotage innerhalb der Behörden zu. Das muss Konsequenzen haben. (Foto: rtr)

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Der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags wirft viele Fragen auf. Dort heißt es etwa, die Häufung falscher Entscheidungen lasse den Verdacht auf gezielte Sabotage innerhalb der Behörden zu. Das muss Konsequenzen haben.
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Der zuständige Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags hat mit seinem kurz vor der Landtagswahl veröffentlichten Abschlussbericht die Debatte über den Umgang mit dem offiziell als „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) bezeichneten Terrornetzwerk neu entfacht. Der Landtag bescheinigt Verfassungsschutz, Polizei und Staatsanwaltschaft grobe Ermittlungsfehler und spricht von einem Desaster bei der Verfolgung der Neonazi-Terroristen. Der Bericht wirft viele Fragen auf.

So auch im Bezug auf die offizielle Darstellung, dass es sich bei den Ermittlungsfehlern um ein „Versagen“ der Sicherheitskräfte gehandelt hat. Es bestehe vielmehr der Verdacht, dass innerhalb der Behörden gezielte Sabotage betrieben wurde.

Hier ein paar Schlüsselpassagen aus dem 1800 Seiten starken Bericht im Wortlaut.

– Zur Fahndung: „Im günstigsten Fall steht hinter dem festgestellten umfassenden Versagen vieler Akteure schlichtes Desinteresse am Auffinden der drei Gesuchten im Vergleich zu anderen Aufgaben, die den damals Handelnden möglicherweise tagesaktuell wichtiger erschienen. Die Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen aber auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu.“

„Verhängnisvolle Tendenz zur Verharmlosung“

– Über die Aussage des Zielfahnders vor dem Ausschuss, der den mutmaßlichen Tätern mehrmals dicht auf der Spur war: „Der Zeuge antwortete auf die Frage, ob er ähnliche Fälle erlebt hat, dass ihm kein Fall bekannt sei, bei dem drei Personen unvorbereitet „über Nacht“ für einen solch langen Zeitraum spurlos verschwunden sind. Das gelte insbesondere, da es sich um drei junge Erwachsene gehandelt habe, die finanziell keine Rücklagen gehabt und die auch vom Entwicklungsstand her noch am Anfang des Lebens gestanden hätten. […] Ohne Helfer sei das spurlose Untertauchen aber nicht möglich gewesen. Er könne nicht sagen, wer geholfen hat. Das werde wohl der Strafprozess in München aufklären.“

– Zur Vernehmung des damaligen Chefs der Geraer Staatsanwaltschaft, Arndt Koeppen: „Er sei nach wie vor der Meinung, dass die Zielfahndung wahrscheinlich sehr gut gearbeitet habe, aber verraten worden sei. Wenn die sich irgendwo angepirscht und versucht habe, jemanden festzunehmen, seien die Zielpersonen vorher offenbar gewarnt worden.“

– Über die Rolle des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz (TLfV): „Für die gezielte Gründung oder den Aufbau von Strukturen der extremen Rechten konnte der Untersuchungsausschuss keine Belege finden. Allerdings gibt es hinreichend Gründe, von einer mittelbaren Unterstützung und Begünstigung derartiger Strukturen durch das TLfV zu sprechen. So wurden an Tino Brandt als V-Mann des TLfV neben Sachmitteln übermäßig hohe Prämien ausgereicht und dieser so in die Lage versetzt, Geld- und Sachmittel in den Aufbau und das Funktionieren des Thüringer Heimatschutzes (THS) zu stecken sowie Reisen, Propagandamaterialien und Aktionen zu finanzieren.“

Versagen – oder absichtliche Sabotage?

– Zur Frage, ob die Thüringer Landesregierung die Bedrohung durch rechtsextremen Terrorismus korrekt einschätzte: „Die Herausbildung militanter rechtsextremistischer Strukturen wurde kaum gesehen bzw. nicht richtig bewertet und unterschätzt. Stattdessen gab es in Teilen der Gesellschaft, bei politisch Verantwortlichen sowie bei kommunalen und Landesbehörden eine verhängnisvolle Tendenz zur Verharmlosung und Entpolitisierung rechter Aktivitäten.“

Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) hat sich bei den Angehörigen der Opfer des sog. NSU für das Verhalten der Ermittlungsbehörden entschuldigt, sprach gleichzeitig aber weiterhin von einem „Versagen“ und nicht von einer gezielten Sabotage der deutschen Sicherheitskräfte. „Beschämt muss ich den Angehörigen von Opfern und den Verletzten des Nagelbombenanschlags in Köln bekennen: Unsere Behörden haben versagt“, sagte Lieberknecht am Freitag in einer Sondersitzung des Thüringer Landtags.

Zur Frage, ob die Thüringer Landesregierung die Bedrohung durch rechtsextremen Terrorismus korrekt einschätzte: „Die Herausbildung militanter rechtsextremistischer Strukturen wurde kaum gesehen bzw. nicht richtig bewertet und unterschätzt. Stattdessen gab es in Teilen der Gesellschaft, bei politisch Verantwortlichen sowie bei kommunalen und Landesbehörden eine verhängnisvolle Tendenz zur Verharmlosung und Entpolitisierung rechter Aktivitäten.“ (dpa)

Sie sprach von Scham und Trauer und bat um Vergebung. Lieberknecht erklärte, Landtag und Regierung in Thüringen stünden für eine vollständige, schonungslose und transparente Aufklärung der Verbrechen des sog. NSU.

Bislang kein einziges Disziplinarverfahren eingeleitet

Die vom Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss aufgeworfenen Fragen müssen nach Ansicht der Ombudsfrau Barbara John personelle Konsequenzen haben. „Wenn jemand seine Dienstvorschriften nicht beachtet, sie missachtet oder sie einfach ignoriert, dann muss zumindest der Versuch gemacht werden, jemanden zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Mordopfer des sog. NSU und ihre Angehörigen am Freitag in Erfurt. Bislang sei kein einziges Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Das sei für die Familien der Opfer vollkommen unverständlich.

Den Thüringer Bericht bezeichnete sie als vorbildlich. Die Abgeordneten hätten – ohne sich und andere zu schonen – den Finger in die Wunden gelegt. „Thüringen war das der Bundesrepublik Deutschland schuldig“, sagte John. „Aber andere Bundesländer sind es Deutschland auch noch schuldig.“ In Hessen und Baden-Württemberg müssten etwa noch die Morde an Halit Yozgat und der Polizistin Michèle Kiesewetter aufgeklärt werden.

Özdemir für zweiten NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir ist in der Debatte um einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages vorgeprescht. Er halte angesichts einer Vielzahl offener Fragen die Neuauflage für erforderlich, sagte Özdemir am Freitag am Rande einer Sondersitzung des Thüringer Landtages in Erfurt. Dort wurde der Abschlussbericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses debattiert.

Der Thüringer Landtag sei mit seinem Bericht mutig vorangegangen, sagte Özdemir. Nun komme es darauf an, die Aufklärung weiter voranzubringen. Das Versprechen der Politik an die Angehörigen der Opfer, dass die Taten vollständig aufgeklärt würden, sei noch nicht erfüllt. „Die These vom Behördenversagen befriedigt mich noch nicht. Möglicherweise kommt eine Art Vorsatz dazu“, sagte er.

Abgeordnete verschiedener Fraktionen diskutieren derzeit, ob ein zweiter NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages eingesetzt werden soll. Der erste hatte 2013 vor der Bundestagswahl seinen Bericht vorgelegt. (dpa/dtj)