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Politik

Was stand in der Nachricht an Zschäpe?

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Vor einem Jahr begann der Prozess gegen die überlebenden Verdächtigen im Zusammenhang mit den Morden eines offiziell als NSU bezeichneten Terrornetzwerkes. Beate Zschäpe klagte am Montag über Übelkeit – nach dem Erhalt einer Nachricht. (Foto: dpa)

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Die Angeklagte Beate Zschäpe (M) kommt am 16.01.2014 in den Gerichtssaal des Oberlandesgerichts in München (Bayern). Vor dem Oberlandesgericht wurde der Prozess um die Morde und Terroranschläge des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) fortgesetzt.
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Zum ersten Mal seit dem Start des NSU-Prozesses vor exakt einem Jahr ist ein Verhandlungstag wegen Unwohlseins der Hauptangeklagten Beate Zschäpe nahezu komplett ausgefallen. Nach mehreren Pausen, stundenlangen Verzögerungen, einem längeren juristischen Disput und einem Befangenheitsantrag gegen einen Gerichtsarzt entschied der Vorsitzende Richter Manfred Götzl am Dienstagnachmittag, den Prozess bis Mittwoch zu unterbrechen.

Am ersten Jahrestag des Prozessbeginns vor dem Münchner Oberlandesgericht hatte die 39-Jährige bereits am Vormittag, nach nur einer guten halben Stunde, über Unwohlsein geklagt. Als Grund für die Übelkeit habe Zschäpe eine Nachricht angegeben, die sie unmittelbar vor Sitzungsbeginn erhalten habe, zitierte Götzl einen Gerichtsarzt, der in der Mittagspause Kontakt mit Zschäpe hatte. Genauere Angaben dazu habe sie aber nicht gemacht.

Keine Angaben zum Inhalt der Nachricht

Der Arzt berichtete laut Götzl, es gebe keine Anhaltspunkte für einen Magen-Darm-Infekt – und keine Anhaltspunkte dafür, dass keine Verhandlungsfähigkeit gegeben sei. Die Folge war eine juristische Auseinandersetzung zwischen Gericht, Verteidigung und Bundesanwaltschaft, ob Zschäpes Vorführung angeordnet werden soll – Bundesanwalt Herbert Diemer beantragte dies. Zschäpes Verteidiger aber stellten im Namen Zschäpes einen Befangenheitsantrag gegen den Arzt, weil dieser teilweise die Unwahrheit gesagt habe. Daraufhin entschied sich Götzl schließlich für die Unterbrechung des Prozesses.

Der NSU-Prozess hatte exakt vor einem Jahr, am 6. Mai 2013, begonnen. Nur an einigen wenigen der mittlerweile 110 Verhandlungstage hatte Götzl die Verhandlung vorzeitig abbrechen müssen, etwa wegen Konzentrationsproblemen Zschäpes – aber jeweils erst nachmittags.

An diesem Mittwoch soll unter anderem der ältere Bruder des mutmaßlichen Neonazi-Terroristen Uwe Böhnhardt als Zeuge gehört werden. Dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ werden zehn Morde zwischen 2000 und 2007 zur Last gelegt. Uwe Böhnhardt und sein mutmaßlicher Komplize Uwe Mundlos sind tot. Zschäpe muss sich vor dem Münchner Oberlandesgericht als Mittäterin an allen NSU-Taten verantworten.

Vor der Unterbrechung hatte das Gericht mit der Vernehmung eines Dortmunder Polizeibeamten begonnen. Der Beamte hatte nach dem Mord an dem türkischen Kioskbesitzer Mehmet Kubasik 2006 eine Zeugin befragt, die zwei verdächtige Männer in Tatortnähe gesehen hatte. Die Frau selbst hatte bereits im November 2013 vor Gericht ausgesagt – und zwar, dass die beiden „wie Junkies oder Nazis“ ausgesehen hätten. Laut Anklage wurde Kubasik von Böhnhardt und Mundlos erschossen.

Rund 50 Demonstranten forderten am Jahrestag des Prozessbeginns vor dem Gericht eine lückenlose Aufklärung der Mordserie. Eine Kernfrage sei nach wie vor unbeantwortet, sagte der Liedermacher Konstantin Wecker: „Inwieweit waren Staat und Geheimdienste involviert?“

Hohe Zeugensterblichkeit

Je länger sich der Prozess hinzieht, umso dubioser werden die Begleitumstände. Vor einigen Wochen wurde der Mann, den der Verfassungsschutz „Corelli“ taufte, tot in seiner Wohnung gefunden. Der 39-Jährige starb nach Behördenangaben an Diabetes. Der V-Mann hatte dem Verfassungsschutz jahrelang Informationen aus der rechten Szene geliefert. Im Fall der Terrorzelle NSU spielte er eine undurchsichtige Rolle. Nun ist eine CD aufgetaucht, die darauf hindeutet, dass er mehr von dem „Trio“ und dessen Taten gewusst haben könnte als angenommen – und zwar Jahre vor dem Auffliegen des NSU.

Es ist nicht der einzige Todesfall in diesem Umfeld, der aufhorchen lässt. Vor einigen Monaten starb ein Zeuge aus Baden-Württemberg. Der junge Mann aus der rechten Szene hatte bereits zum Fall NSU ausgesagt und sollte ein zweites Mal bei der Polizei erscheinen. Kurz vor diesem Termin verbrannte er in seinem Auto. Er soll sich selbst angezündet haben.

Darüber hinaus werden immer deutlichere Zweifel an der Darstellung laut, die Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hätten sich im November 2011 im Wohnmobil zu Eisenach selbst gerichtet – und es werden Fragen laut, ob nicht noch eine dritte Person im Spiel war.

Den früheren Obleuten im NSU-Untersuchungsausschuss bereiten diese Nachrichten ein ungutes Gefühl. „Das sorgt für ein Unbehagen bei mir, dass wir das Netzwerk nicht ausreichend anschauen konnten“, sagt der damalige FDP-Obmann Hartfrid Wolff, der inzwischen nicht mehr im Parlament sitzt. „Wir hätten noch mehr aufklären müssen.“ Die Meldungen treiben auch seine Kollegen, die noch im Bundestag sind, um. Sie wollen nun im Innenausschuss wegen „Corelli“ nachhaken. Das weitere Vorgehen hänge davon ab, wie schlüssig die Erklärungen dazu seien, sagt der frühere Unions-Obmann Clemens Binninger (CDU).

Aber auch andere Fragen lassen die Abgeordneten nicht los: Wie wählten die NSU-Terroristen ihre Opfer aus? Wie viele Unterstützer hatten sie? Auch der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn ist bis heute ein Rätsel. Sehr viele Fragen seien offen geblieben, sagen die Obleute unisono. Auch der NSU-Prozess, der nun seit genau einem Jahr und 110. Verhandlungstagen läuft, habe daran nichts geändert.

Untersuchungsausschuss musste vor Ende der Wahlperiode fertig werden

Mehr als anderthalb Jahre lang arbeiteten sich die Parlamentarier durch Aktenberge und zähe Zeugenvernehmungen, versuchten, die zehn Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ und das dramatische Behördenversagen in dem Fall aufzuarbeiten. Im vergangenen Sommer legten sie ihren 1300 Seiten starken Abschlussbericht vor. Erledigt ist der Fall aber für keinen von ihnen.

„Im Ausschuss fehlte schlichtweg die Zeit, allen Fragen nachzugehen“, sagt die damalige SPD-Obfrau Eva Högl. „Wir hätten über Jahre an dem Thema arbeiten können, aber mussten zu einem Schluss kommen.“ Bis zum Ende der Wahlperiode musste die Arbeit fertig sein.

Wolff hatte früh gefordert, die Aufklärung auch im nächsten Bundestag fortzusetzen. Damit blieb er aber allein. „Es ist ein großes Versäumnis des jetzigen Bundestages, dass der Untersuchungsausschuss nicht wieder eingesetzt wurde“, meint Wolff. „Ich bin sehr traurig, dass wir keine weitere parlamentarische Aufklärung bekommen.“

Die übrigen Obleute halten sich mit Forderungen nach einem zweiten NSU-Ausschuss weiter zurück. Der damalige Grünen-Obmann Wolfgang Wieland hält nichts von der Idee. Schließlich reiche es nicht aus, offene Fragen zu benennen, sagt er. Man müsse auch Anknüpfungspunkte haben, um sie zu beantworten. Und die gebe es derzeit nicht.

Doch bei anderen ändert sich die Tonlage. „Wir werden weiter aufzuklären haben“, sagt die damalige Linke-Obfrau Petra Pau. Zunächst sei der Ort dafür der Innenausschuss. „Spätestens im Sommer, wenn die Abschlussberichte der Untersuchungsausschüsse in Sachsen und Thüringen vorliegen, werden wir uns aber zu verständigen haben, welche Fragen im Bund noch aufzuarbeiten sind.“ Wenn die Aufklärung in den Ländern nicht vorankomme, „dann werden wir im Bund schauen müssen, wie wir weiter damit umgehen“.

Mauern des Schweigens und Verdacht auf tiefe Strukturen

„Wir laufen Gefahr, den gleichen Fehler noch mal zu machen, wenn wir nicht allen Fragen auf den Grund gehen“, heißt es aus Kreisen von Berliner Innenpolitikern. Der Fall NSU ist eine Geschichte der Versäumnisse und Fehleinschätzungen. Die Behörden schauten nicht richtig hin, unterschätzten die Gefahr durch Rechtsextreme und waren jahrelang ahnungslos, was die tödlichen Umtriebe des NSU anging.

Pau sagt, sie habe großes Unbehagen, dass solche Fehler wieder passieren könnten. „Wir haben weiter ein rechtsextremistisches und rechtsterroristisches Problem in Deutschland. Die Gefahr ist nicht gebannt“, meint sie. „Niemand kann ausschließen, dass sich ein Fall wie NSU wiederholt.“ Die Umsetzung der Empfehlungen des Ausschusses lasse auf sich warten. Und oft werde auch heute noch der rechte Hintergrund von Verbrechen nicht erkannt.

Ob ein weiterer Ausschuss die mauernden Zeugen und Verfassungsschutzmitarbeiter – beispielsweise den ominösen Andreas T., der am Tag des Mordes an Internetcafébesitzer Halit Yozgat in Kassel zur Tatzeit am Tatort war und bereits mehrfach durch zweifelhafte Aussagen und Ausflüchte auffiel – gesprächiger machen würde, steht in den Sternen.

Auch der Vorsitzende des ersten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag wird nicht mehr zur Verfügung stehen: Der früherer MdB Sebastian Edathy (SPD, Nienburg II-Schaumburg) legte sein Mandat zurück, nachdem gegen ihn Ermittlungen wegen angeblichen Besitzes kinderpornografischen Materials eingeleitet worden waren. Angesichts der zahlreichen offenen Fragen und der Ereignismuster, die durchaus auch als Indizien auf tiefe Strukturen gedeutet werden können, die sich im Umfeld des Terrornetzwerks gebildet haben könnten, glaubt selbst diesbezüglich nicht jeder an Zufälle. (dpa/dtj)