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Bildung & Forschung

„Ob Ayşe oder Leon, nicht nur auf Probleme, auch auf Potenziale schauen“

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Deutschland ist ein Einwanderungsland. Das habe die Mehrheitsgesellschaft mittlerweile akzeptiert, meint NRW-Schulministerin Löhrmann. Die Zeiten, sich an alten Versäumnissen abzuarbeiten, seien passé. (Foto: Hikmet Aydın)

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„Ob Ayşe oder Leon, nicht nur auf Probleme, auch auf Potenziale schauen“
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Das Schulwesen im bevölkerungsreichsten Bundesland hat im Laufe der letzten Jahre zahlreiche Umgestaltungen erlebt. Eltern mit Migrationshintergrund klagen immer noch vielfach über fehlende Chancengleichheit für ihre Kinder, Kommunen und Land haben Probleme, die Haushalte vor weiteren Schulden zu bewahren, Lehrer fühlen sich überfordert, Stunden fallen aus.

Ministerin Löhrmann nimmt im DTJ-Interview detailliert zu den drängenden Fragen des Bildungswesens in ihrem Bundesland Stellung. Heute: Teil 1.

Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich an Schulen, an denen die Zahl der Schüler mit Migrationshintergrund hoch ist, meist überfordert. Liegt dies möglicherweise daran, dass die Lehrer nicht genügend ausgebildet sind und es ihnen an interkultureller Kompetenz fehlt?

Seit Jahrzehnten beschäftigt uns die Frage, wie schaffen wir es, allen Schülerinnen und Schülern, unabhängig von ihrer Herkunft gerecht zu werden. Und wir müssen natürlich weiter daran arbeiten, die interkulturelle Kompetenz der Lehrkräfte zu erweitern und dafür auch spezifische Unterstützung geben. Ich selbst bin Lehrerin und habe in einer Klasse gearbeitet, die sehr multikulturell war. Ich habe deshalb bewusst eine zusätzliche Fortbildung gemacht. Ich glaube, allen am Schulbetrieb Beteiligten ist klar, dass wir an diesem Thema gemeinsam arbeiten müssen.

Wird sich das auch in der Lehrerausbildung zeigen?

Ja, natürlich. Die Lehrerausbildung hat auch heute schon ein Modul mit dem Titel „Der spezifische Blick auf Kinder, die eine besondere Unterstützung brauchen“. Ich will aber nicht, dass wir dabei nur spezielle Zielgruppen in den Blick nehmen. Denn mir ist natürlich bewusst, dass es auch viele Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte gibt, die keinen besonderen Förderbedarf haben, weil sie leistungsstark sind. Vielfach sind sie hier aufgewachsen und wollen aufsteigen. Und unser Ziel ist ja, nicht zu diskriminieren, sondern die Potenziale der Kinder und Jugendlichen zu entwickeln. Wir müssen weg von der Defizitorientierung hin zur Potenzialorientierung: Ich werbe sehr entschieden dafür, die Potenziale der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte zu sehen und ihre kulturelle Herkunft auch als Stärke und große Chance zu sehen. Aber klar ist auch, dass es in der Lehrerausbildung ein spezielles Modul geben muss, das alle Lehrerinnen und Lehrer erwerben und im Bewusstsein haben, wenn ihre Schülerinnen und Schüler eben doch besondere Unterstützung brauchen.

Mehrheit begreift Deutschland als Einwanderungsland

Wie bewerten Sie die schulischen Leistungen der Migranten und türkischen Schülerinnen und Schüler? Wie sieht der Leistungstrend aus?

Es gibt einen eindeutigen Trend hin zu besseren Abschlüssen. Seit vielen Zugewanderten klar geworden ist, „wir leben hier, unsere Kinder wachsen hier auf und gehen hier zur Schule“, wollen viele Eltern, dass ihre Kinder einen guten Abschluss schaffen. Sie sollen eine Ausbildung machen oder studieren. Und die Gesellschaft ist inzwischen zur Erkenntnis gelangt, in NRW möglicherweise deutlicher als in anderen Bundesländern, „wir sind eine Einwanderungsgesellschaft, ein Einwanderungsland“, also arbeiten wir uns nicht an alten Versäumnissen ab, sondern gestalten diese Gesellschaft. Und deshalb wird gemeinsam an dem Thema Chancengleichheit weiter gearbeitet.

Sie meinen, die Mehrheitsgesellschaft akzeptiert, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist?

Ja, die Mehrheitsgesellschaft hat inzwischen akzeptiert, dass wir ein Einwanderungsland sind. Wir sehen ja auch, dass gut ausgebildete Migranten das Land zum Teil wieder verlassen. Wir sind ein Land, das schrumpft, also müssen wir ein Interesse daran haben, alle klugen Köpfe hier zu halten. Und alleine schon deswegen wende ich mich entschieden gegen die Sarrazins dieser Welt, die auf Probleme gucken und nicht auf Potenziale. Natürlich gibt es auch Probleme, und wir müssen uns um die Probleme kümmern, aber wir sollten ohne Schuldzuweisung daran arbeiten, unseren Kindern möglichst viele Chance eröffnen, egal ob sie Ayşe oder Marie, Leon oder Mesut heißen. Wir können uns keine hoffnungslosen Fälle leisten. Und was NRW betrifft, bin ich zuversichtlich, dass das eine große Mehrheit so sieht. Im Parlament gibt es zum Beispiel über alle Parteigrenzen hinweg eine solche Übereinstimmung.

„Staatlich verordnete Hellseherei“

Türkische Eltern sind meist unzufrieden mit den Empfehlungen der Lehrer. Viele türkische Schüler bekommen heute meist immer noch eine Hauptschulempfehlung nach der Grundschule. Warum gelangen so viele türkische Schüler in Hauptschulen, obwohl sie in den Grundschulen gute Leistungen erbringen?

Ja, die Grundschulempfehlung ist eine Sache für sich. Der Dortmunder Bildungsforscher Dr. Ernst Rösner hat mal gesagt, die Grundschulempfehlung sei „staatlich verordnete Hellseherei“, weil man nicht weiß, was einmal aus einem neunjährigen Kind wird. Begabungen sind nicht statisch. Deswegen hat unsere Regierung entschieden, dass die Empfehlung für die weiterführende Schule nicht bindend ist. Die Eltern haben das letzte Wort. Wir müssen im Interesse der Kinder zusammenarbeiten. Wir wissen, dass viele Eltern sagen, „Wir möchten, dass unser Kind alle Chancen hat“. Sie haben vielleicht selbst Sorge, dass das Gymnasium zu schwer sein könnte und wählen dann eine andere Schule. Drei Viertel der Jugendlichen, die an einer Gesamtschule das Abitur erfolgreich abgelegt haben, hatten zuvor keine gymnasiale Empfehlung. Insofern haben wir in NRW mit dem längeren gemeinsamen Lernen viele Wege hin zu guten Bildungsabschlüssen eröffnet. Das ist gut für die Kinder mit Zuwanderungsgeschichte. Wir wollen gleiche Chancen für alle Kinder. Wenn Eltern das Gefühl haben, die Grundschulempfehlung ist nicht richtig, dann sollten sie auf die Lehrerinnen und Lehrer zugehen und gemeinsam versuchen, eine gute Entscheidung für das Kind zu treffen.

Wie kann man die Kinder aus Problembezirken besser mit Kindern aus wohlhabenderen Bezirken mischen? Welche Maßnahmen werden Sie als Amtsträgerin ergreifen, um aus Schulen, in denen der Migrantenanteil beinahe 100% beträgt, heterogen gemischte und pluralistische Schulen zu machen? Ist das ein Problem für Sie und was möchten Sie dagegen tun?

Bei uns entscheiden die Kommunen, welche Schulen es vor Ort gibt, und ob und welche Steuerungsmöglichkeiten sie ergreifen, etwa durch Festsetzung von Grundschulbezirken. Das ist Aufgabe der Kommunen, nicht des Landes. Ein weiterer Kernpunkt ist der Elternwille. Die Eltern entscheiden, welche Schule sie an welchem Ort für ihr Kind aussuchen, nicht das Land oder die Schulministerin. Wir müssen darauf hinwirken, dass eine bestimmte Schülergemeinschaft sich nicht stigmatisierend und diskriminierend auswirkt. Aber wir mischen uns nicht in den Elternwillen ein. Wir müssen dafür werben, dass ein etwas höherer Migrantenanteil nicht bedeutet, dass die Schule schlechter ist. Das ist aber eine Frage, die entscheide ich nicht per Gesetz, sondern die entscheidet sich in der Öffentlichkeit. Wir haben hervorragende Schulen mit hohem Migrantenanteil. Die preisgekrönte Schule Kleine-Kiel-Straße im Dortmunder Norden hat einen Migrantenanteil von ca. 70 Prozent und führt die Kinder mit großem Erfolg durch die Grundschulzeit. Es ist wichtig, dass sich die Zuwanderungsgesellschaft nicht auf vermeintliche Defizite fokussiert. In der letzten PISA-Studie wurde bestätigt, dass es NRW besser gelingt, Kinder mit Zuwanderungsgeschichte zu fördern und auszubilden. Ein Baustein ist der Ausbau des Ganztags, denn Ganztagsangebote ermöglichen zusätzliche Förderung. NRW hat die Sprachstandserhebung mit der anschließenden Sprachförderung eingeführt und verschiedene weitere Maßnahmen.

Natürlich gibt es auch gute Schulen. Aber etwa im Ruhrgebiet gibt es von den Hauptschulen bis hin zum Gymnasium Schulen, in denen der Migrantenanteil sehr hoch ist. Das stört die Mehrheitsgesellschaft. Und auch die Kommunen.

Aber das ist keine Frage der Schul-, sondern eine der Siedlungspolitik und der Stadtentwicklung. Es gibt keine Landespolitik, die sagt, wir fahren die kleinen Kinder hin und her, um eine größere Mischung zu erzwingen. Wir müssen aber daran arbeiten, dass es keine Ghettos gibt.

Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews