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Politik

Ost-Türkei: Staat geht mit harter Hand gegen kurdische Selbstverwaltung vor

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Zwischen den Parlamentswahlen dreht sich die Gewaltspirale weiter. In 16 Provinzen und Kreisen haben kurdische Organisationen die Selbstverwaltung erklärt. Der Staat geht gegen sie vor und hat über 100 Sicherheitszonen eingerichtet.

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Selbstverwaltungserklärung der DBP in Hakkarî
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Mit den eskalierenden Kämpfen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der terroristischen PKK im Südosten der Türkei gewinnen die Selbstverwaltungsbestrebungen kurdischer Organisationen und Aktivisten erneut an Aufwind. Mittlerweile haben insgesamt sechzehn Provinzen und Landkreise im Südosten des Landes ihre „Selbstverwaltung“ („öz yönetim“) und damit administrative Unabhängigkeit von der Zentralregierung in Ankara erklärt.

Darunter befinden sich die Provinzen Hakkari und Batman, die Landkreise Yüksekova, Varto, Bulanık, Lice, Sur, Silvan, İpekyolu und Doğubayazıd. Darunter sind auch die Istanbuler Viertel („mahalle“) Gazi und Gülsuyu, die als linke und pro-kurdische Hochburgen gelten. Das Konzept der Selbstverwaltung geht auf Schriften Abdullah Öcalans zurück. Darin entwirft er ein Konzept der „Demokratischen Autonomie“, das jenseits des klassischen Nationalstaats basisdemokratische Verwaltungsstrukturen auf lokaler Ebene als Ausweg aus den sektiererischen Konflikten im Nahen Osten propagiert.

Die letzte dieser Selbstverwaltungsklärungen erfolgte am Mittwoch in der Kreisstadt Hizan in der Provinz Bitlis. Der Kreisverband der Demokratischen Partei der Regionen DBP (Demokratik Bölgeler Partisi), die sich als regionalpolitische Schwesterpartei der HDP versteht, der Demokratische Volkskongress von Hizan, Verbände wie KURDÎ-DER, DEM-GENÇ und der DTK sowie andere politische Gruppierungen haben eine gemeinsame Deklaration abgegeben.

Kader Sönmez, die Co-Vorsitzende des Demokratischen Volkskongresses von Hizan, hat im Namen aller beteiligten Organisationen eine Erklärung verlesen, in der sie Anschuldigungen gegen den türkischen Staat erhebt und die Gründe für die Lossagung von Ankara erläutert. Der Kreis wolle sich von Repräsentanten regieren lassen, die die Menschen selbst gewählt haben, nicht von Vertretern aus Ankara, die die lokalen Gegebenheiten missachten würden.

„Wenn die Armee und die Polizei des Staates die Bürger ermorden, statt sie zu beschützen; wenn nicht Justiz und Rechtssicherheit geschützt werden, sondern jeder, der legitime Forderungen erhebt, zum Terroristen erklärt und bestraft wird; wenn Vielfalt, statt durch die Verfassung geschützt zu werden, ignoriert und ausgelöscht wird; wenn Muttersprache und individuelle Identität abgelehnt und in eine Spaltungsparanoia umgewandelt werden, dann kann dieses Regime uns nicht einbeziehen und nicht repräsentieren“ so Sönmez in der Erklärung, die sie bei einer Versammlung vor dem Gebäude des DBP-Kreisverbandes verlesen hat.

Erdoğan: „Sie werden einen hohen Preis dafür bezahlen“

Die Welle kurdischer Selbstverwaltungserklärungen begann nach den Kämpfen in der südosttürkischen Stadt Silopi in der Provinz Şırnak vor zwei Wochen, bei denen vier Menschen ihr Leben verloren. Am 10. August trat der Volkskongress von Şırnak zusammen, der eine Teilorganisation der DBP ist, und erklärte die Selbstverwaltung der Provinz. Dabei wurde die Regierung beschuldigt, verantwortlich für die Gewalt in Silopi zu sein, gleichzeitig jedoch betont, dass man den türkischen Staat als solchen nicht ablehne und man keine Unabhängigkeit, sondern mehr lokale Repräsentation fordere: „Wir als Volkskongress von Şırnak lehnen den Staat nicht ab, allerdings können wir unter diesen Umständen nicht mit seinen Institutionen zusammenarbeiten. Deshalb haben alle staatlichen Institutionen, die in der Stadt vertreten sind, für uns ihre Legitimität verloren.“

Bei den Vertretern des Zentralstaates trafen die Erklärungen erwartungsgemäß auf erbitterten Widerstand. Am Tag nach der Verkündung in Şırnak wies Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Selbstverwaltungsebestrebungen entschieden zurück und drohte ihren Urhebern unverhohlen: „In diesem Land wird definitiv kein Staat außer der Republik Türkei akzeptiert werden. Diejenigen, die diese Erklärung abgegeben haben, werden einen hohen Preis dafür zahlen, sowohl in rechtlicher Form als auch auf andere Art“, so Erdoğan.

Direkt nach Erdoğans Äußerungen begann eine Operation der türkischen Sicherheitskräfte gegen die Vertreter der beteiligten Organisationen. Bei Razzien an zehn verschiedenen Orten, darunter das Haus des DBP-Provinzvorsitzenden  und weiterer hoher Parteifunktionäre, wurden drei Personen verhaftet, zwei DBP-Funktionäre und ein Mitglied des Stadtrates.

Die DBP wies in einer kurz nach den Razzien veröffentlichten Stellungnahme die Anschuldigungen Erdoğans, man wolle einen eigenen Staat auf türkischem Territorium gründen, zurück. „Wir haben keine Autonomieerklärung abgegeben, wir haben keinen Kanton gegründet, wir haben (lediglich) gesagt, dass wir diesen faschistischen Staat nicht anerkennen“ so Salih Gülenç, der Co-Vorsitzende des DBP-Provinzverbandes.

Erst Deklarationen, dann Razzien und Verhaftungen

Ähnliche Vorgänge – erst die Ausrufung der Selbstverwaltung, dann polizeiliches Vorgehen gegen die Urheber – fanden in den letzten zwei Wochen in mehreren Provinzen und Kreisen im Südosten der Türkei statt. Bereits einen Tag nach den Razzien in Şırnak rief der Volkskongress von Gever, wie Yüksekova auf Kurdisch heißt, die Selbstverwaltung aus. Daraufhin kam es ebenfalls zu Polizeirazzien, bei denen diesmal 8 Personen wegen des „Versuches, die verfassungsmäßige Ordnung zu zerstören“ verhaftet wurden, darunter die Co-Vorsitzende des HDP-Kreisverbandes Yüksekova Leyla Polat.

Am 13. August erklärte der Kreis Varto in der Provinz Muş seine Selbstverwaltung, am 14. August Hakkarî, am 15. August Batman, die Kreise Edremit und İpekyolu in der Provinz Van sowie der Kreis Silvan in der Provinz Diyarbakır. Nachdem sich in Silvan hunderte Menschen zu einer öffentlichen Erklärung versammelten, verhing der Gouverneur von Diyarbakır – der vom Zentralstaat eingesetzt wird – eine Ausgangssperre über Silvan, die am Mittwoch wieder aufgehoben wurde. Bei Kämpfen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK-nahen Gruppen während der Ausgangssperre gab es einen Toten und einen Verletzten. In Lice, einem weiteren Landkreis in der Provinz Diyarbakır, wurde noch vor Ende der Ausgangssperre am 18. August ebenfalls die Selbstverwaltung deklariert.

Mehrere bekannte Politiker wie Gültan Kışanak (HDP), die Bürgermeisterin von Diyarbakır, solidarisierten sich mit den Verhafteten und der Bewegung zur Selbstverwaltung. Am Mittwoch gaben mehrere lokale DBP- und HDP-Bürgermeister und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie den Staat beschuldigten, die „Rechtlosigkeit zur Staatsordnung“ machen zu wollen.

Regierung richtet über 100 „Sicherheitszonen“ ein

Zur selben Zeit hat die Regierung in der Südosttürkei für den Zeitraum vom 20. August bis 5. September 28 sogenannte „Sicherheitszonen“ („güvenlik bölgeleri“) in 13 Provinzen eingerichtet, „um Leben und Eigentum der türkischen Staatsbürger zu schützen“. Die Maßnahme stützt sich auf das „Gesetz über militärisch verbotene Regionen und Sicherheitszonen“, das noch aus der Zeit der Militärjunta um den Putschgeneral Kenan Evren stammt. Es beinhaltet ein Einreiseverbot in die besagten Zonen, erleichterte Verstaatlichung von Privateigentum sowie das Verbot der Herstellung, Lagerung und des Verkaufs explosiver Materialien. Nach Angaben der Tageszeitung HaberTürk gibt es mittlerweile über 100 dieser Sicherheitszonen, in denen die Präsenz der Sicherheitskräfte erhöht wurde.

Grund für die Sicherheitszonen sei, dass der von „separatistischen Terrorgruppen ausgeübte Terror und ihre Einschüchterungsaktionen eine Einschränkung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Bürger zur Folge haben“. Sie müssen auf Antrag des Generalstabs vom Kabinett beschlossen werden.