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Parallelwelten – Eine Reise durch Tibet
Abseits der Schlagzeilen, Dach der Welt: Tibet. Ein Land voller Welten, die mal parallel zueinander existieren, mal gewaltsam aufeinanderprallen. Das Dach der Welt ist Zankapfel verschiedener Mächte. Ein Reisebericht aus dem Jahre 2008. (Foto: rtr)
Ein Land, in dem unterschiedliche Mächte miteinander ringen. Mächte, die in den Amtsstuben herrschen, im öffentlichen Leben – und in den Herzen der Menschen.
Mächte, die omnipräsent sind, die parallel zueinander laufen, sich überkreuzen, überlagern und manchmal frontal zusammenstoßen. Für alle sichtbar ist der Konflikt zwischen dem weltlichen Reich Chinas und dem Schattenreich des Dalai Lama, doch wer durch das Land reist, erkennt, dass die Kräfte, die dort wirken, ebenso wie ihre Beziehungen untereinander, sehr viel vielschichtiger und komplexer sind. Nicole Langer hat sich auf den Weg gemacht und präsentiert Auszüge aus ihrem Reisebericht.
Von Nepal aus möchte ich unbedingt auch noch nach Tibet reisen. Doch ein solches Unterfangen will gut geplant sein. Bereits in Kathmandu finde ich eine Reisegruppe und einen von der chinesischen Regierung anerkannten Reiseführer. Die Einreisemodalitäten an der Grenze sind die nächste Hürde, die es zu nehmen gilt. Das Gepäck, das von einem Arzt untersucht wird, darf keine Lebensmittel enthalten. Auch meinen Reiseführer über Tibet aus einem populären internationalen Verlag muss ich unbemerkt über die Grenze schmuggeln, da in diesem, nach Ansicht der chinesischen Regierung, zu wohlwollend über den Dalai Lama berichtet wird. Die Reisepässe werden zwischen den Grenzbeamten hin- und hergereicht, begutachtet und gestempelt. Zu Fuß geht es weiter zu einem weiteren Checkpoint, an dem ein Formular zu möglichen Krankheitssymptomen und Erkrankungen wie Influenza, HIV und Psychosen ausgefüllt werden muss. Endlich geht es weiter zu den Jeeps, mit denen wir in den nächsten Tagen Tibet bereisen werden. Nach kurzer Fahrt jedoch ein erneuter Stopp an einem weiteren Checkpoint, an dem nochmals die Pässe kontrolliert werden. Dann heißt es mehrere Stunden warten, da wegen Bauarbeiten die einzige Straße ins Landesinnere gesperrt ist. Erst am Abend können wir weiterfahren zu unserer einsam gelegenen Unterkunft…
Am nächsten Morgen geht es weiter nach Lathse. Die Fahrt ist beschwerlich, wir gewinnen rasch an Höhe und erreichen den 5000-Meter-Pass. Jede Bewegung fällt schwer, hinzu kommt das Gefühl, nicht genügend Sauerstoff einzuatmen. Verschiedene Symptome der Höhenkrankheit stellen sich ein. Die kurvenreiche Straße und der rasante Fahrstil unserer Chauffeure tun ihr übriges. Abends erreichen wir unsere einfache Unterkunft. Die Zimmer sind nicht beheizbar, der Atem kondensiert zu weißen Dunst. Nachdem es innen so kalt ist wie außen, lassen wir die Türen weit offen stehen, damit es wenigstens etwas heller wird. Angesichts der fehlenden Heizung wirkt die Ausstattung der Räume mit Telefon und Fernseher geradezu grotesk.
Zwölf Stunden Schlaf später scheint sich der Körper an die Höhe gewöhnt zu haben. Sämtliche Beschwerden sind verschwunden. Die kurze Fahrt nach Shigatse ist dadurch sehr angenehm. In der Stadt fallen die Militärposten an den Straßen ins Auge. Überall stehen sie, oft wie erstarrt. Ein einzelner emsig arbeitender Soldat hat seinen Schreibtisch mitsamt Telefon und Papieren direkt am Straßenrand aufgebaut… Sie sind die Herrscher des weltlichen Tibets. Doch das tibetische Schattenreich, das der Dalai Lama beherrscht, wird in Shigatse von dem Tashilunpo-Kloster dominiert. 1447 wurde es von dem späteren Dalai Lama Genden Drup gegründet, seine Gebeine sind an diesem Ort begraben. Der Reichtum, mit dem das Kloster ausgestattet ist, bildet einen starken Kontrast zu der spartanischen Lebensweise der Mönche und Pilger: Allein der Umhang der 26 Meter hohen Buddhastatue besteht aus 300 Kilogramm Gold, die Särge der Panchen Lamas, der spirituellen Lehrer des Gelupga-Ordens, sind ebenfalls aus Edelmetallen gefertigt und mit Edelsteinen geschmückt…
Die Macht des Schattenortes
Doch das weltliche Reich ist sich der Macht des Schattenortes durchaus bewusst und so sind gerade hier die Vorgaben der chinesischen Regierung besonders strikt. Die Fragen zum gegenwärtigen Panchen Lama bleiben unbeantwortet; dem tibetischen Reiseführer ist es verboten, darüber zu sprechen. Es ist ein äußerst heikles Thema, da die chinesische Regierung den vom Dalai Lama eingesetzten gegenwärtigen Panchen Lama unter Hausarrest gesetzt und dafür einen ihr genehmen Panchen Lama eingesetzt hat.
In einer Gebetshalle habe ich die Möglichkeit, an einer Puja, einer Gebetszeremonie, teilzunehmen. Die Luft ist erfüllt vom Duft der Butterlampen und Räucherstäbchen. An die 40 Mönche versammeln sich, um gemeinsam Gebete zu rezitieren und zu singen. Doch meine Vorstellungen von einer spirituellen, einzigartigen Atmosphäre machen rasch Ernüchterung Platz. Vor allem die jungen Mönche sind nicht konzentriert, sondern albern herum, necken sich und strecken sich gegenseitig die Zunge heraus. Als mir dann auch noch die Kälte in die Glieder kriecht, verlasse ich den Ort vor Beendigung der Zeremonie.
Am Abend, den meine Reisegefährten und ich als einzige Gäste in einem tibetischen Restaurant verbringen, kommt ein Tibeter an unseren Tisch und gibt uns stillschweigend einen Zettel mit der Notiz: „Dies ist ein Foto.“ Dabei holt er sein Handy hervor und zeigt uns ein Bild des Dalai Lama. Ich bin sehr überrascht von seinem Vertrauen, schließlich sind derartige Fotos in Tibet verboten. Wir erweisen dem Schattenherrscher unsere Referenz.
Am nächsten Tag geht es weiter nach Gyantse, der drittgrößten Stadt Tibets, in der sich die Reste der um 1390 errichteten Klosterstadt Palkhor Chöde befinden. Hier steht auch die berühmte Stufenpagode Kumbum Stupa, ein Reliquienschrein mit der beeindruckenden Anzahl von 100.000 Abbildungen verschiedener Gottheiten. Jetzt in der Winterzeit sind unzählige Pilger unterwegs, die von einem Kloster zum nächsten wandern und in den buddhistischen Schreinen ihre Opfergaben wie Geldscheine oder Yakbutter darbringen, unter ihnen unzählige Familien vom Säugling bis zum Greis. Auch die 77 kleinen Kapellen der Kumbum Stupa, die sich über vier Etagen erstreckt, sind überfüllt mit Gläubigen. Die Fröhlichkeit und Freundlichkeit der Tibeter in ihrem Schattenreich ist bemerkenswert. Immer wieder wird man gegrüßt. Die Freude, wenn Touristen den Gruß mit dem landesüblichen „Tashi dele“, „Glück und Frieden“, erwidern und Hände schütteln, ist groß.
Am Abend findet sich eine tibetische Teestube zum Aufwärmen, in der sich auch unsere Fahrer und unser Reiseführer aufhalten. Sie spielen Karten und trinken Bier. Bei ihnen sitzen zwei sehr jung aussehende Mädchen, anscheinend Prostituierte. Im Hintergrund läuft im Fernsehen ein Karaoke-Programm. Vor bekannten Heiligtümern aus Shigatse und Gyantse singen die Stars der tibetischen Musikszene anrührende Lieder…
Lhasa und die Frage der Realität
Die nächste Station unserer Reise ist Lhasa. Der Potala-Palast ist schon aus der Ferne zu sehen. Doch wenn man sich der Stadt nähert, gewinnt das weltliche Reich immer mehr die Oberhand. Lhasa erinnert an eine chinesische Großstadt, und Einflüsse der tibetischen Kultur sind beim Durchfahren kaum erkennbar. Als ich am Abend zum ersten Mal auf der Reise den Fernseher im Hotelzimmer anstelle, bringt das weltliche Reich nur Jubelmeldungen über die Verbesserung der Rechte von Frauen und Kindern oder die neu aufgebauten Kontakte zu afrikanischen Staaten. Welches Reich ist das Schattenreich, frage ich mich. Welches der beiden Reiche ist real? Oder realer? Und welches ist mächtiger?
Den Besuch im Potala-Palast am darauf folgenden Tag machen wir ohne unseren tibetischen Führer, denn auch hier ist ein weiteres Zentrum des Schattenreiches und die chinesische Regierung versucht dessen Macht durch Formalien zu beschneiden: Mit dem tibetischen Führer zusammen dürften wir uns lediglich eine Stunde im Gebäude aufhalten und er dürfte uns lediglich das erzählen, was ohnehin auf den Informationstafeln im Palastinneren geschrieben steht – und von der chinesischen Regierung autorisiert ist. Als wir den Palast betreten, werden wir von der Pracht und der Unzahl der Pilger in dem einstigen Regierungssitz des Dalai Lama überwältigt. Viele der Pilger umrunden den Palast in Uhrzeigerrichtung, einige tun dies überwiegend auf den Knien und vollführen Bewegungen, die an Yoga-Übungen erinnern. Zwei Pilgerinnen fangen mit einigen Brocken Englisch ein Gespräch an und bedeuten mir nach kurzer Zeit, ihnen an eine Stelle abseits des Pilgerstroms zu folgen. Sie zeigen mir ihre Kettenanhänger, die sie unter der Kleidung tragen: Medaillons mit dem Abbild des Dalai Lama. Der Schattenherrscher ist überall.
Im Kern von Lhasa herrscht ein geschäftiges Treiben. In unmittelbarer Nähe des Palastes, direkt an der Route der Pilger, befinden sich unzählige chinesische Geschäfte, aus denen laut chinesische Popmusik dröhnt. In einer der zahlreichen Apotheken findet sich ein großes Sortiment an Medikamenten, alle mit chinesischen Schriftzeichen versehen. Bemerkenswerter als das Medikamentenangebot jedoch sind die drei Männer, die mitten in der Apotheke an einem Tisch sitzen, essen und Brandy trinken. Beim Medikamentenkauf wird mir auch eine Flasche zum Erwerb angeboten. Abends in einem Cafe gerate ich in eine Geburtstagsfeier tibetischer Jugendlicher, die schon sehr betrunken sind und sich nur noch wankend fortbewegen. Einer gesellt sich zu mir und lallt mir „I love you. Dalai Lama.“ entgegen. Andere erklären mir, dass er Touristen liebe, da diese den Dalai Lama ehren. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Tragik und Komik, scheinen erneut zu verwischen.
Der Besuch in Sera, einem Ort nahe Lhasa, gehört zu den beeindruckendsten Erlebnissen auf der Reise. Die dortigen Mönche sind bekannt für ihre Debattierstunden. Täglich treffen sie sich auf dem Innenhof, um zwei Stunden lang das Debattieren zu üben. Dies vollzieht sich äußerst lautstark, schon von weitem ist der Lärm zu hören. Jeder ist bemüht, mittels logischer Argumentation sein Gegenüber von seinem Standpunkt zu überzeugen, unabhängig davon, ob die Meinung der Wahrheit entspricht oder nicht. Dabei wird das Böse vertrieben, indem man mit dem Fuß aufstampft und in die Hände schlägt. Auf dem Weg durch die Klosteranlage werde ich von einem kleinen Jungen in sein Haus gerufen. Mit den paar englischen Brocken, die er bereits aufgeschnappt hat, bittet er mich, ihm bei seinen Schulaufgaben zu helfen. Wir sitzen in seinem Zimmer, an den Wänden hängen Bilder vom Dalai Lama, Fußballspielern, Harry Potter und Silvester Stallone. Wir üben zusammen die Aussprache einiger englischer Sätze und er überträgt sie in tibetische Lautsprache. Als ich aufbrechen will, lässt er mich nicht gehen, sondern führt mich durch den restlichen Teil des Hauses. In einem bescheiden eingerichteten Zimmer sind einige Matten ausgebreitet, anscheinend das Schlafzimmer der Familie. Von einem Ofen oder warmen Decken ist nichts zu entdecken. Es fällt mir schwer, von dem kleinen, lachenden Jungen loszukommen.
Den letzten Abend in Tibet verbringe ich mit meiner Gruppe in einer tibetischen Bar in Lhasa. Es wird eine große Pappkiste mit Bierdosen auf unseren Tisch gestellt und eine Kellnerin, die eigens für unseren Tisch zuständig ist, sorgt dafür, dass die Gläser immer gefüllt sind. Die Show des Abends ist leider wenig traditionell. Es treten eine Reihe anscheinend populärer Sänger auf, die zum Abschluss ihrer Darbietung vom Publikum traditionelle, weiße Gebetsschale um den Hals gelegt bekommen. Ich weiß nicht mehr, welche Welten sich hier überschneiden mischen und konfrontieren: Tibet und China? Tradition und Moderne? Ost und West? Bei den Tanzshows bewegen sich die Darsteller in Yak-Kostümen zu lauten, wummernden Technoklängen. Das Publikum, das aus allen Altersgruppen zusammengesetzt ist, verhält sich zurückhaltend, keiner tanzt oder singt zu den Liedern. Dazu eine Lasershow, bei der man in jedem Augenblick das Gefühl hat, dass der Laserstrahl das Auge trifft. Ich hätte nie gedacht, dass der Besuch einer Bar der gefährlichste Teil meiner Reise sein würde…
Am nächsten Morgen verlassen wir Tibet. Auf dem Weg zum Flughafen genieße ich noch einmal die karge, tibetische Landschaft, eine Realität jenseits der zivilisatorischen Scheinwelten, die mich am Flughafen wieder einholen: Formulare und eine überraschend oberflächliche Sicherheitskontrolle. Dann sitze ich auch schon im Flugzeug auf dem Weg nach Kathmandu. Unter mir verschwindet der Mount Everest im Nebel.
* Dieser Text erschien 2008 in der Zeitschrift „Zukunft“.