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Politik

Ist das türkische Wirtschaftswunder vorbei?

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Knapp zwei Monate vor den Parlamentswahlen am 7. Juni trüben sich die Aussichten für die türkische Wirtschaft empfindlich ein. Obwohl dies für die Bevölkerung eine herausragende Rolle spielt, scheinen weder Regierung noch Opposition das Thema im Wahlkampf anzugehen.

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Türrkei Wirtschaft 2015
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It’s the economy, stupid! Das Motto, das Bill Clintons Wahlkampfmanager James Carville 1992 prägte, hat sich zu einer allgemeinen Binsenweisheit für Wahlkämpfe entwickelt. Auch in der Türkei spielte die wirtschaftliche Entwicklung bisher immer eine, wenn nicht die entscheidende Rolle bei den Wahlen. Viele sehen den rapiden Aufschwung der Wirtschaft seit dem Machtantritt der AKP als die wichtigste Säule ihrer bisherigen Erfolge an den Wahlurnen. Umso bemerkenswerter sind zwei Trends, die momentan zu erkennen sind: Erstens scheint der türkische Wachstumsmotor just vor den Parlamentswahlen empfindlich ins Stocken zu geraten. Und zweitens: Während laut einer aktuellen Ipsos-Umfrage 53% der türkischen Bevölkerung die wirtschaftliche Situation als wichtigstes Problem mit Blick auf die Wahlen im Juni sehen, halten sich sowohl Regierung als auch Opposition bis jetzt verdächtig bedeckt bei diesen Themen.

BETAM: 2015 kein Wachstum erwartet

Doch beginnen wir mit dem ersten Punkt. Die Zeiten, in denen die Türkei noch als das China Europas bezeichnet wurde und mit Wachstumsraten um 9% brillierte, wie sie es 2010 und 2011 tat, sind noch nicht allzu weit entfernt. Merklich abgekühlt hatte sich das Wachstumstempo aber bereits ab 2012, als es auf 2,1% fiel, sich 2013 nochmal auf knapp 4% aufraffte, um 2014 unter der von der Regierung anvisierten Marke zu bleiben und knapp 2,6% zu erreichen. Immer noch ein Wachstum, das sich die meisten EU-Staaten wünschen würden, aber gemessen am Boom der Jahre zuvor doch ein merklicher Rückschritt. Für das Jahr 2015 hat die regierende AKP die Zielmarke festgelegt, erneut 4% Wachstum zu erreichen. Doch die Zahlen, die BETAM, das Zentrum für Wirtschafts- und Sozialforschung der Bahçeşehir Universität in Istanbul, nun als Prognose für das vor uns liegende Jahr veröffentlicht hat, dürften der Regierung sauer aufstoßen. Nicht nur hat das erste Quartal 2015 das des Vorjahres noch unterboten – mit anderen Worten: die Wirtschaft ist dieses Jahr bisher noch gar nicht gewachsen – sondern die Prognose der Wirtschaftsentwicklung, die das Zentrum errechnet hat, liegt bei sage und schreibe 0%. Indirekt hat auch die Zentralbank dieser Prognose zugestimmt und dass die Türkische Lira am 14. April auf ein neues Allzeittief gegenüber dem US-Dollar gefallen sowie die Arbeitslosenquote auf den höchsten Stand seit fünf Jahren gestiegen ist, fügt sich in das allgemein schlechte Bild.

Ursachen sind mit Blick auf die Exporte die fortgesetzte Stagnation in der EU, die den größten Absatzmarkt bildet, sowie der Verfall des Ölpreises, der die Konsumfreude der Märkte im ohnehin krisengeschüttelten Nahen Osten noch verschlechtert hat. Doch auch in der Türkei selbst sieht es nicht viel besser aus: „Wir erwarten für 2015 keine signifikante Erholung der Binnennachfrage. Falls die Politik der Europäischen Zentralbank einen Einfluss auf die europäische Nachfrage hat, dann könnte gegen Ende des Jahres eine begrenzte Erholung der Auslandsnachfrage beobachtet werden. Dennoch sehen wir generell voraus, dass das Wachstum 2015 sehr schwach sein wird.“ fasst das BETAM seine Befunde zusammen.

Wirtschaftliche Entwicklung diesmal kein Wahlkampfthema?

Auch wenn die Prognose des IWF für das türkische Wirtschaftswachstum 2015 mit 3% ein wenig optimistischer stimmt als die Aussichten des einheimischen Wirtschaftsinstituts, so bleibt auch sie deutlich unter der selbstgesetzten Zielmarke der Regierung. Hinzu kommt Premierminister Davutoğlus Andeutung, Ali Babacan werde nach den Wahlen am 07. Juni nicht mehr für die Regierung zur Verfügung stehen. Babacan, der sich bisher meist aus parteipolitischen Plänkeleien herausgehalten und in den 2000er Jahren als wirtschaftspolitischer Technokrat die Reformvorgaben des IWF umgesetzt hat, gilt vielen als einer der maßgeblichen Architekten des Wirtschaftsbooms des letzten Jahrzehnts. Sein Abgang und die Aussicht, dass seine Stelle mit einem Erdoğan-treuen, aber wirtschaftspolitisch weniger kompetenten AKP-Vertreter besetzt werden könnte, bereitet nicht nur vielen Bürgern, sondern auch Investoren Kopfzerbrechen.

Doch obwohl es sich um eine denkbar schlechte Ausgangssituation für die Regierung handelt, scheint die Opposition kein Kapital daraus schlagen zu wollen. Zwar können die CHP mit Kemal Derviş und die MHP mit Durmuş Yılmaz zwei renommierte wirtschaftspolitische Schwergewichte für sich verbuchen. Doch die schlechten ökonomischen Entwicklungen spielten im bisherigen Wahlkampfdiskurs so gut wie keine Rolle, obwohl sie eine hervorragende Angriffsfläche für die Opposition bieten würden. Dies mag zum Teil der Tatsache geschuldet sein, dass bisher die Themen Friedensprozess und der geplante Umbau in ein Präsidialsystem dominieren, darüber hinaus ist jedoch offensichtlich, dass keine der Oppositionsparteien ein schlüssiges wirtschaftspolitisches Konzept aufzeigen kann, um eine Alternative zur Regierungspolitik zu bieten. So lange dies der Fall ist, wird es ein leichtes für die AKP sein, die Debatte auf andere Themen zu lenken und so zu verhindern, dass sie in diesem für sie so unangenehmen Punkt in die Defensive gerät. Die Oppositionsparteien täten also gut daran, möglichst früh ihr wirtschaftspolitisches Profil zu schärfen und eine Alternative zum neoliberalen Modell der AKP zu entwerfen.