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Politik

Weniger Erdoğan wagen!

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Die Parlamentswahlen in der Türkei haben erwartungsgemäß ein politisches Beben verursacht und werden große Veränderungen mit sich bringen. Der größte Gewinner sind nicht die Kurden, sondern die politische Kultur des Landes. Ein Kommentar.

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KOMMENTAR Den 100. Geburtstag der Republik Türkei als mächtiger Präsident des Landes zu feiern, das war Recep Tayyip Erdoğans offen geäußerter Traum. Dieser ist wohl nun ausgeträumt, zumindest in der Form, die er sich ausgemalt hat. Das Präsidialsystem, das eine komfortable AKP-Mehrheit per Verfassungsänderung einführen sollte, ist nämlich erst einmal abgemeldet. Millionen Menschen in der Türkei lässt das aufatmen; bei Meinungsumfragen war die Mehrheit jedes mal gegen Erdoğans Pläne, das parlamentarische gegen ein Präsidialsystem einzutauschen. Dass die AKP ihr ursprüngliches Ziel einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit um gefühlte Lichtjahre verfehlt hat, ist für viele ein Sieg der Demokratie. Kurz bevor Erdoğan das Land zu einer Diktatur gemacht hätte, haben die Wähler die Notbremse gezogen.

Doch ein Sieg für die Demokratie waren die Parlamentswahlen nicht etwa nur deshalb, weil die AKP erstmals eine Regierungsmehrheit verpasst hat und einen Dämpfer für ihren immer autoritäreren und korrupteren Regierungsstil erhalten hat. Vielmehr hat die Wahl die besten Seiten der türkischen Gesellschaft zutage gebracht und gezeigt, dass es zwischen Edirne und Hakkari eben doch mündige und unabhängige Staatsbürger gibt, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Eine Wahlbeteiligung von fast 90% gab es in Deutschland das letzte Mal vor über 30 Jahren; da können sich die Deutschen eine Scheibe von den Türken abschneiden.

Die türkische Zivilgesellschaft verteidigt ihre Rechte

Aber nicht nur bei der Wahrnehmung seiner staatsbürgerlichen Rechte hat sich das türkische Volk am Sonntag mit Ruhm bekleckert, sondern vor allem bei deren Verteidigung. Über einhunderttausend Türken haben ihr Wochenende freiwillig damit verbracht, als ehrenamtliche Wahlbeobachter alles zu versuchen, um einen Wahlbetrug wie er bei den Kommunalwahlen von 2014 gemutmaßt wurde, zu verhindern. Allein 70.000 freiwillige Wahlbeobachter konnte der Verein „Oy ve Ötesi“ (etwa „Wahl(stimme) und darüber hinaus“) mobilisieren und er war bei Weitem nicht der einzige Verein, der das tat. Verschwindend gering wirkt da die Zahl von 123 Wahlbeobachtern, die die OSZE entsandt hat. Dabei kommt auch der privaten Nachrichtenagentur Cihan eine zentrale Rolle zu. Sie hat eigene Wahlbeobachter an die Urnen gestellt, die der Auszählung beiwohnten und die Ergebnisse in Echtzeit an die Zentrale der Agentur weiterleiteten, von wo sie direkt veröffentlicht wurden, um Manipulationen bei der Übermittlung zu verhindern. Die gravierenden Unterschiede bei den ersten Hochrechnungen des Wahlabends – Cihan sah die AKP bei 40%, die staatliche Agentur Anadolu Ajansı bei über 49%! – laden da zu Spekulationen ein.

Doch auch, dass Erdoğans Strategie der Spaltung so grandios gescheitert ist, muss man der türkischen Wählerschaft zugutehalten. Seit Monaten hatten er und seine AKP-Handlanger die linke pro-kurdische HDP als Hauptgegner im Wahlkampf auserkoren und sich auf sie eingeschossen. Die Früchte dieses gesäten Hasses ließen nicht lange auf sich warten. Über 100 Übergriffe gegen die HDP gab es während des Wahlkampfes, darunter drei Bombenanschläge mit mindestens drei Toten und mehreren hundert Verletzten. Und trotzdem bewahrte die Partei die Ruhe, zeigte gar Größe. Demirtaş betonte landauf, landab, man lasse sich nicht provozieren und rief dazu auf, friedlich zu bleiben. Statt sich in der rachsüchtigen Rhetorik des Präsidenten zu üben, protestierten sie mit „Herşeye Rağmen Barış!“-Plakaten („Trotz allem Frieden!“).

Ob Anhänger oder Gegner: Einzug der HDP ist große Chance

Es scheint so, als hätten die Wähler es ihr gedankt. Die HDP nimmt die Wahlhürde mit 13% überdeutlich und wird voraussichtlich mit 80 Abgeordneten genauso stark vertreten sein wie ihr ideologischer Erzfeind MHP. Das wäre nicht annähernd möglich gewesen, hätte sie sich wie ihre Vorgänger auf ihr kurdisches Klientel beschränkt. Viel Anerkennung erhält die HDP dafür, dass sie es geschafft hat, Millionen ethnischer Türken anzusprechen, vor allem aus den bisher marginalisierten Milieus. Freilich haben sehr viele von ihnen die Partei aus taktischen Gründen gewählt, da ihr Einzug der sicherste Weg war, eine AKP-Mehrheit zu verhindern. Trotzdem sollte man genauso viel Anerkennung einem großen Teil der türkischstämmigen HDP-Wählerschaft zukommen lassen, schließlich haben es mehrere Millionen Türken geschafft, über ihren Schatten zu springen und ein jahrzehntealtes Tabu zu überwinden.

Noch vor zehn Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass eine linke, pro-kurdische Partei mit nachgewiesenen Verbindungen zur terroristischen PKK dermaßen hohe Stimmenanteile im Westen der Türkei erhält. Das ist eines der eindrücklichsten Zeichen dafür, dass die Kurdische Frage nach den Jahrzehnten des Kämpfens und Leidens näher denn je daran ist, zu einem zivilen Thema zu werden, das friedlich auf dem Parkett der Politik geklärt werden kann. Ein eindringliches Symbol dessen – wenn auch mit einem bitteren Beigeschmack – ist die Tatsache, dass mit Dilek Öcalan und Ziya Pir die Nichte des Staatsfeindes Nr.1 Abdullah Öcalan und der Sohn des PKK-Mitbegründers Kemal Pir als gewählte Volksvertreter im Parlament sitzen.

Kein Welpenschutz für die HDP

Besagtes Parkett wird im Übrigen auch bunter. Der Frauenanteil im Parlament ist leicht gestiegen, er ist so hoch wie nie und vor allem die ethnischen und religiösen Minderheiten des Landes werden mehr denn je repräsentiert, so beispielsweise durch vier christliche Abgeordnete, mehr Kurden als je zuvor sowie durch Angehörige der armenischen, aramäischen und jesidischen Minderheiten.

Es wäre jetzt an der Zeit, dass die politischen Parteien sich der Demokratisierungs-dymamik, die aus der Zivilgesellschaft in das Parlament geschwappt ist, anschließen und beispielsweise bei der Suche nach Koalitionsoptionen zeigen, dass sie kompromissfähige und verlässliche Akteure sein können. Dazu gehört im Übrigen auch, sich jetzt als Opposition der AKP gegenüber nicht in Triumphalismus zu suhlen, sondern im Zweifelsfall auch mal die Hand zu reichen und den Ausgleich zu suchen.Was jetzt gebraucht wird, ist eine Abkehr von den Werten, für die das System Erdoğan mittlerweile steht: Kompromisslosigkeit, Polarisierung, Spaltung, Rachsucht, Triumphalismus, Unbelehrbarkeit und Arroganz. Die HDP kann dabei keinen Welpenschutz für sich beanspruchen, das wird sie aber wahrscheinlich auch nicht tun.

Willy Brandt würde ihnen wohl zurufen: „Glückwunsch, ihr könnt jetzt mehr Demokratie wagen!“