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Politik

Trotz aggressiver PKK-Strategie: Es gibt keine Alternative zum Friedensprozess

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„Sicherheitsdienste“, „Volksgerichte“, „Revolutionssteuern“: Die PKK hat in Teilen der Südosttürkei einen faktischen Parallelstaat errichtet. Think Tanks werfen Ankara vor, aus Angst um den Friedensprozess nicht zu agieren. Wie reagiert Ankara? (Foto: rtr)

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„Sicherheitsdienste“, „Volksgerichte“, Einhebung von „Revolutionssteuern“: Die PKK hat in Teilen der Südosttürkei einen faktischen Parallelstaat errichtet. Think Tanks werfen Ankara vor, aus Angst um den Friedensprozess nicht zu agieren. Wie reagiert Ankara?
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Der Friedensprozess zwischen der PKK und der türkischen Regierung ist eine historische Chance für das Land, nach Jahrzehnten des Krieges, Verfolgung und der Zerstörung endlich zu Ruhe zu kommen. Trotz mehrerer gefährlicher Zwischenfälle und komplizierter politischer Entwicklungen auch in den Nachbarstaaten der Türkei hielt der Friedensprozess bislang. Die PKK zog den Großteil ihrer Kampfverbände von türkischem Boden ab und die Regierung begann mit politischen Reform in Bezug auf die Rechte der Kurden.

Doch nun schlagen bedeutende türkische Think-Tanks Alarm. Die PKK habe zwar einen Großteil ihrer bewaffneten Verbände der sog. Volksverteidigungskräfte (Hêzên Parastina Gel, kurz HPG) aus der Türkei abgezogen. Doch gleichzeitig habe die Terrororganisation die Ausbildung einer neuen militärischen Gruppierung begonnen: der „Revolutionären Patriotischen Jugendbewegung“ (türk. Yurtsever Devrimci Gençlik Harekatı, kurz YDG-H, kurd. Tevgera Ciwanen Welatparêz Yên Şoreşger).

Diese äußerst aggressiv vorgehende Gruppe habe den Friedensprozess dazu genutzt in Teilen Südostanatoliens einen Parallelstaat mit Paralleljustiz zu errichten. Die Think-Tanks zufolge ist ihre Herrschaft in mehreren Gegenden der Türkei bereits Realität.

Bilgesam: Regierung sieht schleichender Machtübernahme der PKK untätig zu

Die türkische Regierung in Ankara rief Ende 2012 den Friedensprozess mit der PKK ins Leben, als sie das Gespräch mit deren inhaftiertem Führer Abdullah Öcalan auf İmralı suchte. Atilla Sandıklıs, Vorsitzendenr des Weisenrates für Strategische Studien (Bilgesam), warnt nun jedoch davor, dass die terroristische PKK den Friedensprozess zur Umstrukturierung und nicht zur Abrüstung genutzt habe. Er bezeichnet sogar die PKK als der Hauptprofiteur des Friedensprozesses.

Das ehrgeizige Projekt des Friedensprozesses ist der türkischen Regierung nach mehr als 30 Jahren Bürgerkrieg, so schließt man seitens des Think Tanks, so viel wert, dass sie selbst einer schleichenden Machtübernahme der Terroristen in zahlreichen Territorien des Südostens des Landes untätig zusieht.

Ausübung von Verwaltungstätigkeiten durch die Terrororganisation – das ist in vielen Teilen der türkischen Kurdengebiete längst tägliche Realität, vor allem in urbanen Bereichen. Da die Polizei wegen des Friedensprozesses zurückhaltend agiere und nur in den seltensten Fällen eingreife, übe in einigen Städten und Stadtvierteln längst die „Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans“ (Koma Civakên Kurdistan, KCK), der urbane Arm der PKK, die Autorität aus.

Ankara hat kein Gewaltmonopol mehr im Südosten

Ihr Netzwerk schafft in einer Stadt nach dem anderen „befreite Zonen“, in denen sie eigene „Sicherheitseinheiten“ betreibt, „Volksgerichte“ ins Leben ruft und Abweichler bestraft. Gleichzeitig sind reguläre staatliche Autoritäten in diesen Territorien auf dem Rückzug und überlassen die Gemeinschaften sich selbst oder besser gesagt der PKK. Diese kidnappt dort Leute zu Zwecken der Einschüchterung, führt „Identitätskontrollen“ an Straßensperren durch und erhebt eine „Revolutionssteuer“ von Geschäftsleuten – eine Form der Schutzgelderpressung, wie sie bereits andere terroristische Verbände in Europa ausgeübt hatten, etwa die ETA im Baskenland oder die IRA in den nordirischen Katholikenvierteln.

Schwer bewaffnete YDG-H Einheiten in der Südosttürkei. (dha)

„Da erforderliche Sicherheitsmaßnahmen in der Region nicht mehr vorgenommen werden, ist ein Autoritätsvakuum entstanden, das durch die PKK gefüllt wird“, erklärt Sandıklı.

Auch die landesweiten Unruhen vor wenigen Wochen im Zusammenhang mit der Situation in Kobani, die etwa 50 Todesopfer gefordert hatten, seien auf die funktionierenden urbanen Strukturen der PKK zurückzuführen gewesen, so der Forscher. Die Proteste wären eine regelrechte „Modenschau“ für die PKK gewesen. Die YDG-H ihre Macht in einigen Gebieten offen gezeigt und in mehreren Stadtteilen von Cizre eine „Autonomie“ ausgerufen und Barrikaden gegen die regulären Sicherheitskräfte errichtet. Neben Mordanschlägen auf türkische Soldaten habe es in den PKK-Hochburgen in letzter Zeit auch „Hinrichtungen“ von „Agenten“ gegeben.

HESA: PKK nutzte Friedensprozess um eigene Herrschaft zu errichten

„Es ist eindeutig wahr, dass die PKK den Friedensprozess genutzt hat, um ihre eigene Herrschaft in der Region zu errichten“, betont auch Mahmut Akpınar, ein Sicherheitsanalyst am Zentrum für Recht, Ethik und Politische Studien (HESA) in Ankara. „Der Friedensprozess hat den Weg bereitet für die faktische Selbstverwaltung durch die PKK.“

Vor Beginn des Friedensprozesses habe es, so Akpınar, am 11. November 2012 in den Bergen von Kandil im Nordirak ein Treffen der führenden Kommandanten der PKK gegeben, bei dem die Beteiligten feststellen mussten, dass die Strategie, Kämpfer in den Bergen auszubilden, um diese dann in den Städten die Macht an sich zu reißen, gescheitert sei. Aus diesem Grund habe man die Strategie der Bildung urbaner Kerne gewählt.

Dies sei die Geburtsstunde der YDG-H gewesen. Sie ist die Stadtguerilla der PKK und den „Selbstverteidigungseinheiten“ (ÖSB) der Terrororganisation unterstellt. Die ÖSB-Mitglieder wiederum sind nicht selbst durch kriminelle Umtriebe aufgefallen, sondern sollen eine Art „Geheimdienst“ bilden. Sie organisieren auch die Ausbildung der YDG-H-Kämpfer in eigenen Trainingscamps in der Türkei, betreiben Aufklärungstätigkeit und inszenieren Provokationen. Dazu habe auch der Auftritt in Cizre gezählt.

„Die PKK hat viel stärker an Boden gewonnen, wenn es um die Errichtung einer Autonomie geht, als dies in der türkischen Öffentlichkeit bekannt ist“, warnt Akpınar.

Die YDG-H trat jedoch nicht nur in städtischen Gebieten in Südostanatolien in Erscheinung. So nahmen Mitglieder der Gruppierungen 13 mutmaßliche IS-Kämpfer in der osttürkischen Provinz Hakkari fest. Anfang September berichteten türkische Medien außerdem, ein YDG-H Kommando habe in Istanbul einen mutmaßlichen IS-Funktionär erschossen.

Militärischer Ansatz brachte 30 Jahre keine Lösung

Die Strategie der PKK, ihre eigentlichen Kampfverbände durch die Stadtguerilla zu ersetzen, das aggressive Vorgehen der YDG-H gegen jegliche Opposition in den von ihr beanspruchten Gebieten und die Frage nach dem Gewaltmonopol stellen die Regierung vor eine schwierige Entscheidung. Duldet sie dieses Vorgehen weiter, verliert sie womöglich weitere Regionen und Stadtviertel an die PKK. Je länger eine parallele Herrschaftsstruktur bestand hat, desto höher auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich zuvor neutrale Bewohner mit ihr arrangieren. Wegschauen kann keine Lösung sein.

Entscheidet sich die türkische Regierung aber dazu, das Gewaltmonopol wieder herzustellen und die PKK bzw. die YDG-H aus ihren Hochburgen zu vertreiben, so wird das nur unter Einsatz massiver Polizei- und Waffengewalt möglich sein. Opfer in der Zivilbevölkerung wären wahrscheinlich. Ein solcher Schritt würde außerdem den Friedensprozess vollends beenden und den Krieg zurückbringen. Der Türkische Staat setzte Jahrzehnte lang auf eine militärische Lösung des Konfliktes, ohne dies jemals erreicht zu haben. Das Gegenteil war der Fall: Zehntausende Menschen starben, Hunderttausende wurden vertrieben, eine ganze Region versank im Krieg. Der Einsatz von Gewalt stellt aus Sicht der Türkei in diesem Fall erfahrungsgemäß also auch keine Option dar.

Der einzige Weg aus dieser Misere ist folglich eine Fortführung und Intensivierung der Friedensverhandlungen, um die Lage im Südosten des Landes nachhaltig zu entschärfen und politische Lösungen zu erarbeiten, anstatt wieder militärische Wege zu beschreiten. Alle Verhandlungspartner müssen ein Interesse an einer politischen Lösung des Konfliktes haben. Es gibt keine Alternative zu politischen Verhandlungen.