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Kolumnen

Politische Teilhabe: Was einst Fortschritt war, ist heute Rückschritt

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Politische Talk-Shows sind ein beliebtes Sendungsformat. Millionen Menschen sitzen regelmäßig vor den Fernsehern und schauen zu, wie einige ausgewählte Gäste miteinander diskutieren. Ein ähnliches Bild gibt es auf Podiumsdiskussionen. Eine kleine Zahl von Menschen sitzen auf der Bühne, die die Fragen des Moderators zu einem aktuellen politischen Thema beantworten. Oder jetzt eben. Einige Tausend Menschen lesen die Gedanken eines einzelnen Mannes. Politische Partizipation bedeutet heute auch, dass Millionen von Menschen alle vier bis fünf Jahre zur Wahl gehen – und auch dort wieder einer kleinen Gruppe von Menschen bemächtigen, in ihrem Namen Politik zu machen.

Minderheit macht Politik für Mehrheit

Es ist immer dasselbe Prinzip: Eine kleine Zahl von ausgewählten Menschen machen Politik für eine Mehrheit. Politik, so wirkt es, ist ein exklusives Geschäft einer kleinen Gruppe von Menschen, die privilegiert zu sein scheinen.

Doch diese Teilhabemöglichkeiten von heute, über die eine allgemeine Unzufriedenheit herrscht, sind Errungenschaften einer Vergangenheit, in der Menschen Untertanen absolutistischer Herrscher waren. Das Volk besaß keine Mitwirkungs- und Einflussnahmemöglichkeit. Institutionen wie das Parlament, in das das Volk durch den Akt der Wahl Vertreter schicken konnte, die ihre Interessen gegenüber Monarchen ausgedrückt haben, war ein Durchbruch.

Was einst eine Zäsur war, die zur Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen beigetragen hat, reicht den Menschen heute scheinbar nicht mehr aus. Es existierte eine Unzufriedenheit über diesen Zustand. Das Interesse an Politik und an der politischen Teilhabe ist in den vergangenen Jahrzehnten permanent gesunken. Dies jedoch wurde lange Zeit als “Politikverdrossenheit” missverstanden. Inzwischen wissen wir, dass das Interesse der Menschen an politischen Gestaltungsfragen nicht abgenommen hat. Es hat sich verschoben.

Gesellschaften im Umbruch

Nun befinden sich europäische Gesellschaften (einschließlich die Türkische) selber in einer Phase des Umbruchs. Die Möglichkeiten der Teilhabe reichen nicht mehr aus. Die Menschen heute sind nicht nur weitaus gebildeter und dank der Medienvielfalt informierter. Und was ganz wichtig ist: sie haben Zeit, weil sie nicht mehr den ganzen Tag für ihre Versorgung aufwenden müssen. Acht Stunden Arbeit an fünf Tagen der Woche reichen oft aus, um den Lebensunterhalt für sich und die Familie zu sichern.

Es gibt noch eine weitere wichtige Entwicklung: Als mein Vater 1970 nach Deutschland als Gastarbeiter einwanderte, war er Lagerfachkraft, die er bis zu seiner Rente auch geblieben ist. Solche geradlinigen Erwerbsbiografien werden immer weniger. “Multioptionsgesellschaft” nennen Soziologen diese Entwicklung, in der eine stabile planbare Erwerbsbiografie durch ein Leben ersetzt wird, das nicht mehr einer geraden Straße, sondern vielmehr den verzweigten Ästen eines Baumes gleicht.

Kommunikationstechnologien haben Teilhabe revolutioniert 

Hinzukommen Technologien wie das Internet und die Smartphones, die das Informationsverhalten und Teilhabemöglichkeiten der Menschen heute revolutioniert haben. Der Mensch ist nicht mehr auf den Fernseher oder die Zeitung angewiesen. Er kann ohne großen Hürden im Internet selber recherchieren. Und wenn einer von der Deutschen Bahn oder der Verwaltung seiner Stadt genervt ist, kann er zu seinem Smartphone greifen und seine Unmut via Facebook und Twitter posten.

Das Leben ist schneller, vielfältiger, unvorhersehbarer und unmittelbarer geworden. Die klassischen Teilhabemöglichkeiten wie beispielsweise eine Wahl oder Medien und Zeitungen und Fernsehen, bei denen der Mensch vielmehr ein passiver Konsument als aufgeklärter Bürger ist, befriedigen nicht mehr die Bedürfnisse der Menschen von heute nach selbstbestimmter Gestaltung und Teilhabe.

Drei Tendenzen in der Zukunft 

In der nahen Zukunft sind drei wichtige Entwicklungen absehbar:

1. Aufgrund der technologischen Möglichkeiten werden sich die Möglichkeiten, an politischen Gestaltungsfragen teilzunehmen, vervielfachen. Insbesondere das Internet sowie die sozialen Netzwerke und soziale Medien darin werden wichtig.

2. Ich spreche bewusst von “Menschen” und nicht von Bürgern”. Nur die Staatsbürger eines Landes besitzen heute das Wahlrecht. Aber man kann davon ausgehen, dass in postmodernen Gesellschaften diese Einschränkung nicht mehr ohne Weiteres durch die Betroffenen akzeptiert wird. Es gibt nämlich keinen evidenten Grund, warum Menschen diese Teilhabemöglichkeit verweigert wird.

3. Für jeden Einzelnen wird die Beherrschung von Informations- und Kommunikationstechnologien eine zentrale Kulturtechnik wie Lesen, Schreiben und Rechnen sein. Die Schulen, Nachhilfe- und Bildungsvereine der türkischen Community müssen Medienkompetenz ihr ihr Curriculum aufnehmen. Denn Medienkompetenz bedeutet nicht, dem Kind ein Handy zu kaufen, sondern es schrittweise und verantwortungsvoll den Umgang mit diesen Technologien beizubringen.