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Kolumnen

Erdoğans ‚Neue Türkei‘: Abschied von Atatürk

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Viele denken, die Türkei habe einen neuen Staatspräsidenten gewählt. Erdoğan und seine Anhänger dagegen interpretieren ihren Sieg als Legitimation zum Abschied von Atatürk. Hier die Begründung, warum ich das so sehe. (Foto: reuters)

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Haben die Türken am 10. August 2014 bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei nur ihren Staatspräsidenten gewählt? Oder steckt hinter der Wahl mehr? Hat Atatürk ausgedient? Diese Fragen galten bis zur Wahl von Recep Tayyip Erdoğan als theoretisch, von der Realität abgehoben. Jetzt nicht mehr. Dafür bietet Erdoğan selbst genug Nahrung.

In der Nacht des Wahlsieges hielt Erdoğan eine Rede, gerichtet an die Nation. Dabei sagte er manches, das einer genaueren Analyse bedarf. Zum Beispiel dies: „Nunmehr haben der Staat und das Volk keine entgegengesetzte Richtungen mehr. Ab heute gehen sie in die gleiche Richtung. Als eins marschieren sie auf der gleichen Route.“ Was bedeutet dies?

Das Ende der Türkei Atatürks

Vergegenwärtigt man sich das Weltbild der konservativ-religiösen Kreise in der Türkei, so kann dies nur ein bedeuten: Ein Abschied von Atatürk. Eine Neu-Ausrichtung der Türkei. Weg vom Westen.

Die Trennung von Staat und Volk steht im Weltbild konservativ-religiöser Kreise für die Türkei Atatürks. Die Reformen Atatürks, die Ausrichtung der Türkei hin zum Westen hat die anatolische Bevölkerung als Trennung von Staat und Volk wahrgenommen.

Das Volk hatte seine eigenen Werte und Ansichten. Die Elite dagegen, die den Staat lenkte, orientierte sich am Westen. Die kemalistischen Eliten, die sich an Atatürk orientierten, sahen in der Religion einen fortschrittshemmenden Faktor.

Sie wollten mit ihren Reformen die Religion zurückdrängen und die Türkei auf den Stand der entwickelten Länder heben. Mit diesem Ziel haben sie das lateinische Alphabet eingeführt, das Kalifat abgeschafft, der Bevölkerung moderne europäische Kleidung verpasst.

„Das Niveau der zeitgenössischen Zivilisation erreichen“, das war Atatürks Slogan. Er mag es gut gemeint haben, aber das hat ihn leider nicht daran gehindert, auch mal über das Ziel hinaus zu schießen. Seine Politik nahm zeitweise religionsfeindliche Züge an. Erfolge hat er auch gefeiert, besonders in städtischen Regionen und im Westen und küstennahen Regionen des Landes.

Weltbild anatolischer Muslime

Die anatolische Bevölkerung nahm das ganze freilich etwas anders wahr. In den Diskursen, ihrem Weltbild sah das ganze so aus: Für sie waren die Eliten des Staates vom Volk abgekoppelt, ebenso von den eigenen Werten. Sie versuchten den Westen zu kopieren und nachzuahmen. Das Wohlgefallen des Westens war für sie wichtiger als die Interessen des eigenen Landes.

Da sie auch nicht so gläubig waren, hatten sie in sich kleinere Hürden vor der Korruption, vor Diebstahl. Sie bereicherten sich selbst anstatt das Vermögen der Gemeinschaft zu hüten wie den eigenen Augapfel.

Wenn aber einmal die Söhne Anatoliens einmal an die Macht kommen könnten, werde alles anders. Durch ihre Glaubensstärke würden sie sich korrekter verhalten. Die Korruption im Lande würde zurückgehen. Da sie den seligmachenden eigenen Werten verbunden sind, würde im Lande weitgehend Frieden herrschen.

War es denn damals, zur Zeit der Osmanen nicht anders, besser? Hatten Soldaten im osmanischen Heer, die durch Felder zogen, sich nicht bereichert? Wenn sie denn etwas nahmen, dafür dann Gelder an die Äste angehängt? Hatte das Land damals nicht ein höheres Ansehen, anstatt wie heute die Marionette des Westens zu sein?

File photo shows workers hanging portraits of Turkey's leaders in Istanbul

Erdoğan knüpft heute an diese Vorstellung an. Man muss auch zugeben: Nicht alles an dieser Vorstellung ist falsch! Die kemalistischen Reformen – auch wenn sie notwendig und aus heutiger Sicht richtig gewesen sein mögen – waren von oben aufgezwungen.

Revolutionen sind gewöhnlich schwerer zu verdauen als Reformen, zumal sie die Kultur betreffen. Anatolische Konservative fühlten sich unverstanden, die Kurden ebenso wie die Aleviten. Dies alles mag zutreffen und sie treffen aus meiner Sicht zu.

Eine andere, noch wichtigere Frage ist die: Was bietet Erdoğan an der Stelle Atatürks? Welche Alternative bietet er an? Welche Alternative als die moderne, mit Grundrechten der Bürger ausgestattete Demokratie haben wir?

Konservativ-religiösen Muslime fühlten sich mit ihrer Kritik an der kemalistischen Türkei moralisch überlegen. Sie wussten alles besser, konnten alles besser. Ein ’goldenes Zeitalter’ wollten sie schaffen. Und jetzt?

Der fromme Dieb

Sie haben nun die höchste Macht, ihr Idol Erdoğan ist an der Spitze des Staates, der Ausgangspunkt aber ist desaströs. Sie fühlen sich moralisch überlegen, doch Erdoğan ist mit riesigen Korruptionsvorwürfen belastet.

Mittlerweise assoziieren die Menschen in der Türkei das Wort ’hırsız’ (Dieb) mit Erdoğan. Auch eigene Anhänger bestreiten dies nicht, sagen aber: „Çalıyor ama çalışıyor“ (Na gut, er klaut, aber er schließlich arbeitet auch). Wer auf Erdoğan-Kundgebungen beklaut wird und sich laut mit den Worten ’Hırsız var’ (Vorsicht Dieb) beklagt, wird zusammengeschlagen, da die Leute annehmen, er meine Erdoğan.

Anstatt die Vorwürfe gerichtlich klären zu lassen, hat Erdoğan den Rechtsstaat faktisch entmachtet. Erdoğan selbst hat auch die politische Kultur des Landes vergiftet. Er redet nicht jugendfrei. Würden Schüler Erdoğan nachahmen, so würden sie ohne nicht Disziplinarstrafen davonkommen.

Ja, er wollte mehr Frieden ins Land bringen. Aber die Bevölkerung ist heute gespaltener, hasserfüllter denn je. Das Wort Kompromiss gibt es in türkischen Lexika, aber Erdoğan bestreitet dies. Die beste Konfliktlösung scheint für ihn das Zertreten von politischen Gegnern zu sein.

In der Türkei Atatürks war nicht alles optimal. Wenn es so weitergeht, werden wir uns nach ihr sehnen als die gute, alte Zeit. Hoffentlich kommt es nicht so weit.