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Politik

Präsidialsystem: Notwendiger Wechsel oder Übergang in eine „illegale Diktatur“?

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Vergangene Woche musste der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu abtreten, weil er nicht mehr den Anforderungen von Staatspräsident Erdoğan nachkommen wollte. Der will ein Präsidialsystem einführen, wofür er wohl die Mehrheit der Türken auf seiner Seite hätte. Nicht alle sagen aber einen reibungsfreien Ablauf voraus und warnen vor einer „illegalen Diktatur“.

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Ak Saray in Ankara
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Laut Verfassung ist die Türkei eine parlamentarische Demokratie, in der der Ministerpräsident mit seinem Kabinett die politischen Entscheidungen trifft und das Land regiert. Hierbei spielt der Staatspräsident zwar eine entscheidende Rolle, ist aber nicht für die Regierungsgeschäfte zuständig. Dennoch sind nach Einschätzung von Adil Gür, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts A&G, 60 Prozent der Türken der Meinung, dass das Land nicht von Ministerpräsident Davutoğlu , sondern von Staatspräsident Erdoğan regiert wird. Gür sieht die Türkei in einem Prozess des Systemwandels, dessen Grundlage bereits mit dem Verfassungsreferendum von 2007 gelegt worden sei. In einem Interview mit der Tageszeitung Sabah liefert der Meinungsforscher dafür folgende Erklärung ab: „Die Türken haben sich im Jahre 2007 in einem Referendum dafür entschieden, den Staatspräsidenten direkt zu wählen. Damit haben sie eigentlich 60 Prozent des Problems gelöst. 2014 wurde dann der erste Schritt zum Systemwechsel vollzogen indem der jetzige Staatspräsident gewählt wurde.“ Nun gebe es zwei gewählte Politiker an der Spitze des Staates; den Staatspräsidenten und den Ministerpräsidenten: „Das ist das eigentliche Problem.“ Gür ist der Auffassung, dass – vorausgesetzt es gelänge, den Wählern die Situation zu erklären – 60 Prozent der Türken einem Übergang zum Präsidialsystem zustimmen würden.

Son einfach scheint ein Systemwechsel jedoch nicht zu sein. Nach Meinung von Özer Sencar, dem Vorsitzenden des Sozialforschungszentrums MetroPOLL, muss Erdoğan auf dem Weg zum Präsidialsystem drei Hürden überwinden. Eine davon sei die parteiinterne Opposition – was Sencar eher als das kleinere Problem sieht: „Davutoğlu hat das Präsidialsystem nach türkischen Modell in der Öffentlichkeit nicht unterstützt. Dieses Problem zu beseitigen, war einfach.“ Die zweite Hürde sei die Abstimmung über die Verfassungsänderung im Parlament. Da sie geheim durchgeführt werden muss, könnten einige AKP-Parlamentarier Erdoğan ihre Stimme verweigern. Wie viele das sein könnten, könne man nicht genau voraussagen: „Um dieses Problem zu lösen, wird Erdoğan entweder Zwischenwahlen anordnen oder auf die Unterstützung der MHP setzen.“

Für die Zwischenwahlen ist es notwendig, dass eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten ihr Mandat verliert. Ein Gesetzentwurf, dessen Ziel es ist, Abgeordneten, gegen die staatsanwaltschaftliche Ermittlungen laufen, die Immunität zu entziehen, ist in die Wege geleitet. Am stärksten wäre davon die pro-kurdische HDP betroffen. Mit dem greisen Vorsitzenden der rechtsnationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, weiß Erdoğan einen langjährigen Unterstützer auf seiner Seite. Doch die parteiinterne Opposition will Bahçeli abwählen und einen neuen Vorsitzenden an die Spitze bringen, von dem oder der sie sich mehr Erfolg erhoffen. Der außerordentliche Parteitag hierzu soll am 15. Mai 2016 stattfinden.

Nicht alle Beobachter bewerten den Wandel vom parlamentarischem zu einem Präsidialsystem als eine notwendige Normalität, wie es Gür beschreibt, und sehen nur noch letzte politische Hürden, die noch zu überwinden sind. Sie beobachten darin eher einen Wechsel zu einer Willkürherrschaft Erdoğans und sprechen dementsprechend nicht von einem neuen System, sondern von einem neuen Regime, in dem Grundrechte eingeschränkt und Oppositionelle verfolgt werden. Zu ihnen zählt der renommierte Journalist und Buchautor Ahmet Altan, der jahrelang als Chefredakteur der Tageszeitung Taraf die AKP bei der Bekämpfung der Vorherrschaft der Militärs unterstützt hat. Er schreibt dazu auf P24, ein Plattform für Unabhängige Journalisten: „Um das, was wir gerade erleben, richtig zu verstehen, müssen wir zwei Sachen gleichzeitig bewerten.“ Die erste seien die Korruptionsermittlungen vom 17. und 25. Dezember 2013 und die zweite die Tatsche, dass Erdoğan ganz offen die Verfassung bricht: „Die Regierung ist am 17. Dezember beim Stehlen erwischt worden. Sie hat sich danach geweigert, sich an die Gesetze zu halten und hat einen Putsch gegen die Justiz verübt. Auch danach hat die AKP-Regierung des Öfteren mit unfassbaren Taten das gütige Recht missachtet und ist dafür nicht angeklagt worden. Zudem hat Erdoğan erklärt, dass er die Verfassung nicht einhalten werde und sich auf dem Weg einer illegalen Diktatur begeben.“