Politik
„Bereits die harmloseste Kritik wird als Hochverrat bezeichnet“
Auch nach der Wahl bleibt die Luft für regierungskritische Journalisten in der Türkei dünn. Experten führen die autoritäre Politik auf Angst vor schlechter Politik, aber auch vor juristischen Abrechnungen im Fall eines Machtwechsels zurück. (Foto: cihan)

Die politische Atmosphäre in der Türkei scheint sich nach den Kommunalwahlen zwar ein wenig zu entspannen, doch setzt die Regierung ihre harte und wenig kommunikative Politik auch nach dem 30. März weiter fort. Einer der bedeutendsten Kritikpunkte, der gegenüber der Regierung um Ministerpräsident Erdoğan angebracht wird, ist ihr autoritärer Regierungsstil.
Nachdem am 3. April das Verfassungsgericht das Urteil eines Gerichts unterer Instanz zur Aufhebung der Twitter-Sperre bestätigt und Tags darauf auch die Wiedereröffnung des Zugangs zu YouTube anordnete, erwirkte die türkische Regierung ein weiteres Gerichtsurteil, um die Sperre wieder in Kraft zu setzen.
Daraufhin wurde auch in diesem Fall ein Individualantrag beim Höchsten Gericht gestellt und diesem stattgegeben, ohne dass das Verfassungsgericht die Ausschöpfung des Rechtszuges abgewartet hätte. Aus Sicht des Regierungschefs ein Fall von Rechtsbeugung, aus Sicht des Gerichts eine wirksame Behauptung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, da ansonsten jedes Höchstgerichtsurteil mittels einer neuen Anordnung oder Klage unterminiert werden könne.
Das gescholtene Gericht weist in seiner Begründung auch darauf hin, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts Ankara vom 25. März zur Aussetzung der Sperre selbst eine Woche später von den staatlichen Behörden immer noch nicht befolgt worden sei. Auch die Aufhebung von Teilen der Justizreform durch das Verfassungsgericht hatte Richterschelte zur Folge. Unterdessen arbeitet man mit Hochdruck daran, ein Gesetz zu verabschieden, dass dem Geheimdienst möglichst umfassende Befugnisse einräumen soll.
Ausreiseverbote gegen Journalisten, „Spionage“-Ermittlungen gegen Polizeibeamte im Zusammenhang mit der Aufdeckung eines mutmaßlichen Waffenschmuggels an der syrischen Grenze und Haftbefehle im Zusammenhang mit Abhörvorwürfen gegen Beamte, die der Hizmet-Bewegung nahe stehen sollen, unterstreichen zusätzlich noch, dass die Regierung ihren Wahlsieg vom 30. März als Freibrief für willkürliche Strafaktionen gegen Kritiker betrachtet.
Habertürk-Kolumnist analysiert Rhetorik und Praxis der Regierung
Konkret macht sich der Vorwurf einer zunehmend autoritären Ausrichtung auch anhand der Erfahrungen von Journalisten bemerkbar, die regierungskritisch berichten. Seit dem Beginn der Korruptionsermittlungen vom 17. Dezember scheint eine Methode, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, besonders en vogue zu sein: Die Kritik an der Regierung als Verrat an der Nation zu bezeichnen. Der Habertürk-Kolumnist Yavuz Semerci hat den Diskurs der AKP-Regierung seit den Korruptionsermittlungen analysiert und ist dabei zu interessanten Schlüssen gekommen.
Im Interview mit der Nachrichtenagentur Cihan verwies Semerci auf die Bedeutung von kritischen Stimmen in einer Demokratie. Kein Politiker könne es wollen, ein Land bewusst schlecht zu regieren. Es sei daher die Aufgabe insbesondere von Journalisten, auf die Fehler der Politiker aufmerksam zu machen. „Doch leider haben wir momentan ein Stadium erreicht, in dem jede Form der Kritik sofort als Hochverrat abgewürgt wird.“
Es gebe zahlreiche Journalisten, die die Regierung sowohl lobten als auch kritisierten. Er selbst, so Semerci, habe beispielweise die dritte Brücke und den dritten Flughafen kritisiert, den Marmaray-Tunnel jedoch überaus begrüßt. „Aber es ist einfach unfassbar, dass die Regierung mittlerweile Kritik an ihrem Regierungsstil als Hochverrat an der Nation wahrnimmt.“ Die Denkweise der Regierung, „Wenn wir abgewählt werden, wird alles den Bach runtergehen“, sorge dafür, dass sie immer autoritärer werde.
Über den Kopf gewachsen
„Zum ersten Mal erlebe ich eine Regierung, die sich so sehr von einer Abwahl fürchtet“, meint Semerci. Seiner Meinung nach gebe es zwei Gründe für diese Haltung. „Einerseits glauben sie wirklich daran, dass eine andere Regierung nicht in der Lage sei, das Land zu führen. Andererseits befürchten die Regierenden, dass es aus revanchistischen Gründen zu einem juristischen Vorgehen gegen sie kommen würde, sobald eine andere Regierung das Ruder übernehmen würde. In den vergangenen elf Jahren hatte die AKP-Regierung mit den elitistischen Kemalisten abgerechnet und die Bevormundung durch das Militär gebrochen. Sie hat vieles richtig gemacht. Doch all das scheint ihr über den Kopf gewachsen zu sein.“
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