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„Pro-Erdoğan“ als synonym für gescheiterte Integration

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Kann man den Grad der Integration der Türken in Deutschland wirklich daran messen, ob sie Pro-Erdoğan sind oder nicht? Unser Blogger Özkan Tokuç hat da ein Appell

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Pro-Erdoğan, Integration, Doppelte Staatsbürgerschaft, Türken
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Nie war die türkische Politik so präsent in den deutschen Medien wie sie es aktuell ist.

Ob beim Bäcker, Friseur, Kiosk oder bei der Arbeit, so ziemlich jeder Deutsch-Türke wird über die politische Lage in der Türkei ausgefragt. Die momentan gängigste Frage, die selber mehr Antwort als Frage ist lautet zusammenfassend wie folgt:

„Wie können Türken in Deutschland nur für die Abschaffung der Demokratie in der Türkei stimmen. Was ist denn da bei der Integration falsch gelaufen?“

Man halte also fest:

  1. Die Türken in Deutschland sind antidemokratische Pro-Erdoğan Freaks.
  2. Die Integration ist gescheitert.

Es ist zwar immer wieder die Rede von der postfaktischen Zeit, aber ich kann nicht drum rum einige Fakten zu checken:

Das Referendum zur Verfassungsänderung in der Türkei endete in Deutschland mit 62 % „Evet“ (Ja) und 38 % „Hayır“ (Nein) Stimmen.

In Deutschland leben etwa 3,2 Mio. Türkeistämmige. Davon waren 1,4 Mio.  Wahlberechtigt. Davon wiederum gaben 700 Tausend ihre Stimmen ab, wovon ca. 400 Tausend mit „Ja“ für die Verfassungsänderung stimmten, die die türkische Demokratie nun endgültig ins Koma versetzen sollte.

Ergo stimmten 13% der Deutsch-türken für Erdoğan.

Diese Zahl relativiert die hochgepushte Thematik etwas. Ich denke nun eine Debatte zu führen, in der Türken pauschal als Befürworter Erdoğans deklariert und als antidemokratisch abgetan werden ist fehl am Platz.

Aber da man sich trotzdem die Frage stellen muss warum diese 13 % ein antidemokratisches Regime in der Türkei unterstützen, komme ich zu Punkt 2 und stelle eine Frage:

Ist die Integration wirklich gescheitert?

Wenn ja, wer trägt Schuld bzw. Mitschuld?

Ob die Integration gescheitert ist, ist eigentlich eine obsolete Frage, da dieser Begriff nicht definiert ist. Erfolg und Misserfolg lassen sich nur an vordefinierten Zielen messen, die beim Thema Integration schlicht nicht existieren.

Trotzdem wird das Referendum in weiten Teilen als Gradmesser der Integration gesehen. Betrachtet man also trotz jeglicher Relativierung die Ergebnisse des Referendums und vergleicht Deutschland mit anderen Ländern, kann eine treffendere Analyse erfolgen:

Die Ergebnisse des Referendums….

…in Frankreich:                 65 % Ja, 35 % Nein

…in Holland:                      69 % Ja, 31 % Nein

…in Belgien:                       77 % Ja, 23 % Nein

…in Großbritanien:         20 % Ja, 80 % Nein

…in den USA:                    16 % Ja, 84 % Nein

…in Kanada:                       27 % Ja, 72 % Nein

Ich möchte diese Zahlen anhand von zwei Aspekten näher betrachten:

  1. Bildung:

Man sieht, dass die Unterstützung Erdoğans vor allem in den Ländern hoch ist, in die die Türken als einfache Arbeitskräfte aus allen Teilen Anatoliens migrierten.

Im Vergleich dazu ist der Anteil an Gegnern der Verfassungsänderung in den Ländern sehr hoch, in die die Türken als Akademiker oder Studenten migrierten.

Daraus könnte man folgern, dass das Demokratieverständnis auch eine Sache der Bildung ist. Hier sollte man in Deutschland Ansätzen und sich dessen Bewusst werden, dass Demokratie und Integration keine Rassen- oder Kulturfrage, sondern eine Bildungsfrage ist. Bildung ist der Schlüssel zur Integration und zur Demokratie. Dazu gehört die naturwissenschaftliche Bildung ebenso wie die politische, kulturelle und religiöse Bildung.

2. Integrationspolitik:

„Deutschland ist kein Einwanderungsland“ sagte schon Helmut Kohl zu seiner Zeit als Kanzler. Deutschland hat bis Mitte der 2000er Jahre nicht registriert, dass seit Generationen hinweg Millionen Menschen im Land leben, die Sorgen und Bedürfnisse haben und denen es an der Teilhabe in der Gesellschaft mangelt. 40 Jahre lang hat man in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern ganz einfach verschlafen eine Integrationspolitik auf die Beine zu stellen.

Stattdessen wurden etliche Diskussionen und Scheindebatten auf dem Rücken der Migranten geführt. Dazu gehören unter anderem auch die Burka, die Leitkultur und das Islamgesetz. Eine weitere Scheindebatte ist die aktuelle Frage um die doppelte Staatsbürgerschaft.

Hier möchte ich den österreichischen Bundespräsidenten Van der Bellen zitieren, der diese Woche eine Kernfrage in den Raum stellte: „Welchen Schaden hat Österreich von der doppelten Staatsbürgerschaft genommen?“

Welchen Schaden ergab sich für Deutschland? Welcher Schaden ergibt sich aus Menschen mit einem deutschen und sogleich einem britischen, italienischen, japanischen oder brasilianischen Pass?

Ich denke beide Seiten sollten davon abhalten den Pass als Ursache oder Lösung von Problemen zu sehen. Sie ist keines von beiden und schon gar nicht etwas identitäres.  Nein, sie ist lediglich mit politischen Rechten und Pflichten verbunden, welche es zu Achten und Pflegen gilt. Erst recht sagt sie nichts über die politische Ansicht und über die Unterstützung der Regierung des jeweiligen Landes aus.

In den USA definieren sich die Menschen, ganz gleich welchen ethnischen, kulturellen oder religiösen Background sie auch besitzen, als stolze US-Amerikaner.

Wieso klappt das nicht in Deutschland?

Vielleicht, weil deutsche Politiker das Bedürfnis nicht loswerden Türken und Muslimen immer wieder aufs Neue klar machen zu wollen, dass sie nicht zu Deutschland gehören.

Vielleicht auch, weil Türken Ihrerseits seit jeher von der Türkei aus politisiert wurden und die politische Zugehörigkeit sowie den türkischen Nationalismus für sich als oberste Identitätsstufe ausmachen.

Unser Problem ist definitiv nicht der Pass. Aber trotz allem appelliere ich an alle Türken und Migranten mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft:

Falls ihr wirklich vorhabt euer Leben in Deutschland aufzubauen und fortzuführen, dann werdet Staatsbürger dieses Landes und nehmt an der Gesellschaft und vor allem an politischen Entscheidungen teil. Auch wenn die sinnfreie Folgerung daraus sein sollte den ursprünglichen Pass abzugeben.  Lasst nicht zu, dass man über eure Köpfe hinwegentscheidet. Verschafft euch politisches Gehör. Die Politik kann euch nicht ignorieren, wenn eure Stimmen ausschlaggebend sind. Nur so wird man sich um eure Anliegen kümmern.

Da ist es definitiv auch der verkehrte Weg auf die Hilfe Ankaras zu hoffen und mit einem rumpöbeln des Herrn Erdoğan Genugtuung zu erfahren.