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Gesellschaft

Rassismusdebatte: Wann, wenn nicht heute?

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Mehr als anderthalb Jahre lang arbeitete der NSU-Ausschuss im Bundestag die Verbrechen der Zwickauer Terrorzelle auf. Nun liegt der Abschlussbericht vor. Vertreter der Opferangehörigen sehen darin nur einen ersten Schritt. (Foto: dpa)

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Bundespräsident Joachim Gauck nimmt am 02.09.2013 auf der Besuchertribüne im Reichstagsgebäude in Berlin zusammen mit Angehörigen der Opfer der NSU-Terrorzelle an der Sitzung des Bundestages teil. Das Staatsoberhaupt verfolgte die Debatte über den Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses.
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Der Neonazi-Untersuchungsausschuss fordert nach dem Abschluss seiner Arbeit eindringlich, Lehren aus dem Ermittlungsdesaster im Fall NSU zu ziehen. Die Empfehlungen des Ausschusses seien ein Arbeitsprogramm für die nächsten Jahre und dürften nicht in der Schublade verschwinden, mahnten die Obleute am Montag in einer Sondersitzung des Bundestages. Die Abgeordneten berieten dort über den Abschlussbericht des Ausschusses zur Neonazi-Mordserie. Darin fordert das Gremium grundlegende Reformen und einen Bewusstseinswandel in den Sicherheitsbehörden. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) mahnte, die Arbeit sei nicht erledigt.

Dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) werden zehn Morde zwischen den Jahren 2000 und 2007 zur Last gelegt – an neun türkisch- und griechischstämmigen Männern sowie einer Polizistin. Geheimdienste und Polizei waren der Terrorbande über Jahre nicht auf die Spur gekommen, weil sie den rechtsextremistischen Hintergrund nicht erkannten. Die Neonazis flogen erst Ende 2011 auf, nachdem zwei der mutmaßlichen Terroristen tot in einem Wohnmobil aufgefunden worden waren. Die einzige Überlebende des Trios, Beate Zschäpe, steht derzeit in München vor Gericht. Der Prozess wird nach der Sommerpause an diesem Donnerstag fortgesetzt.

Der Untersuchungsausschuss hatte Ende Januar 2012 begonnen, die NSU-Verbrechen und die gravierenden Ermittlungsfehler aufzuarbeiten. In ihrem mehr als 1300 Seiten starken Abschlussbericht fordern die Mitglieder unter anderem, den Informationsfluss in den Sicherheitsbehörden zu verbessern, mehr Menschen aus Zuwandererfamilien für die Arbeit bei Polizei und Verfassungsschutz zu gewinnen oder dem Generalbundesanwalt mehr Befugnisse zu geben. Der Fall NSU soll Bestandteil der Polizeiausbildung werden, der Einsatz von V-Leuten reformiert werden.

Angehörige der NSU-Opfer, Bundespräsident Joachim Gauck (unten, 3.v.re.) und der türkische Botschafter Hüseyin Avni Karslıoğlu (unten, 2.v.li.) verfolgten die Parlamentsdebatte von der Zuschauertribüne aus. Am Mittag hatten sich Mitglieder des Ausschusses mit den Angehörigen getroffen, auch Gauck kam mit ihnen zusammen. Viele Familienmitglieder der NSU-Opfer waren bei den Ermittlungen selbst Ziel von falschen Verdächtigungen geworden. Lammert entschuldigte sich dafür im Namen des Parlaments.

Lehren aus strukturellem Versagen ziehen

Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) mahnte, Rechtsextremismus dürfe nie wieder so unterschätzt werden wie in der Vergangenheit. Ein Behördenversagen wie im Fall NSU dürfe sich nie wiederholen. Der stellvertretende Ausschussvorsitzende Stephan Stracke (CSU) betonte, die Vorlage des Abschlussberichts sei nur die erste Etappe auf einer langen Wegstrecke. „Der Beginn ist gemacht, jetzt heißt es umsetzen.“ SPD-Obfrau Eva Högl betonte, die Empfehlungen würden von allen Fraktionen getragen. Sie erwarte deshalb, dass sie „nicht in der Schublade verschwinden“.

Die Obleute prangerten ein strukturelles Versagen an. Daraus seien dringend Lehren zu ziehen. Der Unions-Obmann Clemens Binninger (CDU) beklagte, die Behörden hätten die Gefahren des Rechtsextremismus kolossal und tragisch unterschätzt, nicht ausreichend zusammengearbeitet und einseitig ermittelt. Die Linke-Obfrau Petra Pau mahnte, in vielen Behörden herrsche „ein Geist (…), der Rassismus bedient“. Darüber müsse die Gesellschaft grundsätzlich debattieren.

Der FDP-Obmann Hartfrid Wolff räumte ein: „Es sind noch viele Fragen offen geblieben.“ Er plädierte dafür, die Ausschussarbeit in der nächsten Legislaturperiode fortzusetzen. Das Bundestagsgremium ist der erste von mehreren Untersuchungsausschüssen, der seine Arbeit beendet. In mehreren Landtagen geht die Aufarbeitung weiter.

Auch Barbara John, seit 2012 Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer der NSU-Morde, forderte eine Fortsetzung der Ausschussarbeit. „Mein Fazit dieser Debatte ist: Es ist gut, dass es einvernehmlich geführt worden ist. Dass die Urteile eng beieinander lagen. Dass die Angehörigen der Ermordeten und Opfer des Anschlags in Köln dabei sein könnten. Dass im Rahmen der Vorgespräche versprochen wurde, dass es nicht das Ende dieser Debatte ist, dass es weiter gehen sollte“, betonte die Ombudsfrau.

Keine Sternstunde des Parlaments

John ergänzte: „Was bei den meisten angeklungen ist, ist aber – bei einigen zumindest -, dass wir im Grunde in Sicherheitsfragen eine Staatskrise hatten, die aufgearbeitet werden muss. Das ist aus meiner Sicht zu kurz gekommen. Denn dieses massive Versagen muss aufgearbeitet werden. Unabhängige Beschwerdestellen sind eine Mindestanforderung. Ich habe den Eindruck, dass viele weiter machen wollen, und dass es dazu noch kommen kann.“

Opferanwalt Mehmet Daimagüler äußerte sich zufrieden mit den Worten des Bundestagspräsidenten, betrachtet den Ausschussbericht aber ebenfalls erst als ein Etappenziel. „Es war sehr wichtig, den Bundestagspräsidenten zu hören. Seine Worte waren aufrichtig und haben gut getan“, so Daimagüler. „Allerdings hat meine Mandantschaft das Gefühl, dass nach Auffassung einiger im Plenum jetzt das große Vergessen beginnen soll. Dass das Gefühl erweckt werden soll, alles sei aufgeklärt, alle Fragen beantwortet, und jetzt könnten wir weitermachen.“

Dem wäre aber nicht so. Die Opfer und Angehörigen hätten nun mehr Fragen als vor dem Ausschuss. „Der Abgeordnete Rix hat zu Recht gesagt, wir brauchen eine Debatte über Rassismus. Aber dann fragen wir, wann, wenn nicht heute? Heute wäre der Tag, um über den Rassismus zu debattieren. Denn es wurden Menschen umgebracht, weil sie türkischer Herkunft waren. Diese Morde wurden nicht aufgeklärt, weil die Opfer türkischer Herkunft waren. Es geht um Rassismus, und Rassismus war heute nur ein Nebenthema. Es war keine Sternstunde des Parlaments“, so Daimagüler. (dtj/dpa)