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Kolumnen

Als Deutschtürke in der neuen Heimat Urlaub machen

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Das Reiseverhalten der Menschen ist unterschiedlich, es hängt nicht nur von der Geldbörse ab, sondern auch von Erfahrungen, Traditionen und Einstellungen. Die Deutschen, die binnen zwei Generationen zu Wohlstand kamen, haben viel gesehen. Selbst bei den ehemaligen Ostdeutschen breitet sich mittlerweile Langeweile aus, wenn sie im Reisekatalog die Abschnitte Mallorca, Kanarische Inseln, Dominikanische Republik und Südküste der Türkei durchblättern. Mehr und mehr Menschen entdecken unter solchen Umständen das eigene Land, fahren mit dem Fahrrad an die Nordsee und durchqueren den Schwarzwald in Wanderschuhen von Norden nach Süden. Zusammengefasst: viele Deutsche sind über die Jahre Aktivurlauber geworden und teilen diese Einstellung mit Engländern und Nordeuropäern.

Andere Völker sind anders: die Franzosen reisen am liebsten in das Dorf, in dem die Vorfahren lebten. Irgendjemand von der Familie besitzt dort ein Haus, das nun zwei Monate lang auf Grundlage interner Absprachen genutzt wird. Die Italiener haben es nicht weit zu den Küsten ihres Landes. Mindestens um den 15. August herum, dem „Ferragosto“, muss man, wie in Spanien und Portugal auch, einige Tage am Meer verbringen – trotz anhaltender Wirtschaftskrise. Das Reiseverhalten der Türken und Deutschtürken ähnelt am Ende dem der anderen mediterranen Völker. Man fährt dorthin, wo die Großeltern leben, wo die Eltern zur Welt kamen oder man fährt ans Meer. Viele, die als Gastarbeiter in der Bundesrepublik begannen, haben dort mittlerweile ein Ferienhaus, das nun die Großfamilie für ein paar Wochen bevölkert.

Die Türkei ist „eine Nation in Pantoffeln“

Eine Neigung, besonders viel zu unternehmen, wie sie die Mehrheitsdeutschen haben, besteht nicht. Man verbringt die Tage zu Hause, besucht allenfalls die Familie des Ehepartners. Der in diesem Jahr in den Juli fallende Ramadan tut ein Übriges, die Aktivitäten in engen Grenzen zu halten. Keiner hat diese Einstellung besser beschrieben, als der preußische Generalstabschef Helmuth von Moltke, der mehrere Jahre als Militärberater am Bosporus lebte: die Türkei, so berichtete er nach Hause, sei „eine Nation in Pantoffeln“. Der Orient sei eine Weltgegend, wo „eine Wasserpfeife, ein schattiger Baum, eine plätschernde Quelle und eine Tasse Mokka genügen, um sich zehn bis zwölf Stunden des Tages köstlich zu unterhalten“.

Dennoch empfehle ich meinen neuen Landsleuten, vor allem denen, die im Auto in die Heimat der Großeltern fahren, ihr Reiseverhalten etwas zu ändern. Sie sollten auf der Fahrt nach Süden einen Tag mehr einlegen, um sich eine romantische deutsche Stadt oder etwa ein Flusstal anzuschauen. Es lohnt sich, die neue Heimat Zug um Zug kennenzulernen. Nicht nur, weil sie vielgestaltig, im Sommer erstaunlich grün und schön ist, sondern weil man dabei das Land besser versteht. Denn die Deutschen kommen anders als die Türken nicht von der Tradition eines großen Landes her, des Osmanischen Reiches, sondern von zumeist überschaubaren Gebilden, den sogenannten Kleinstaaten. Die Folgen davon kann man in der Politik bis zum heutigen Tage besichtigen, zum Beispiel die entsetzliche, alle vernünftigen Menschen ermüdende Debatte um die Maut.

Deutschland als neuentdecktes Urlaubsland

Genauso spannend sind Reisen an die deutschen Küsten, wo die alten Hansestädte mit den Backsteinbauten der großen Kirchen und Handelshäuser liegen. Essen und Trinken sind kein Problem. Die Vielzahl der Lebensstile macht es möglich, bei der Bedienung die Bestellung aufzugeben, die einem entspricht. Auch auf die Bedürfnisse der Kinder wird mittlerweile eingegangen, bis hin zum passenden Sitz für den Zweijährigen.

Für den ganz schmalen Geldbeutel von Jugendlichen empfiehlt sich eine Übernachtung in einer Jugendherberge ins Auge zu fassen oder ein Privatzimmer für ein paar Nächte zu mieten, wenn einem die Landschaft gefällt. Denn zu den gut gehüteten Geheimnissen dieses Landes gehört, dass Deutschland ein sehr preiswertes Reiseland ist, dass man in den meisten anderen europäischen Länder mehr Euros in der Kasse haben muss, um einen Reisetag mit Übernachtung, Essen, Eintritten und Kosten für Benzin zu bestreiten.

Nicht zu unterschätzen ist schließlich der psychologische Aspekt: Veränderungen innerhalb der Gesellschaft werden sichtbar; es wird selbstverständlich, in der neuen Heimat Urlaub zu machen, an ihr auch während der Ferienzeit zu partizipieren und selbstbewusst ein Teil von ihr zu sein. Gute Reise!