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Gesellschaft

Respekt vor anderen nicht durch Gesetze, sondern Gewissensbildung

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Die in Eriwan lehrende Politikwissenschaftlerin Aline Ozinian* nimmt in der „Zaman“ Stellung zu Fragen der Diversität und plädiert dafür, Respekt vor Andersdenkenden nicht durch Gesetze, sondern durch Gewissensbildung zu stärken.

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Respekt vor anderen nicht durch Gesetze, sondern Gewissensbildung
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Wo liegen die Grenzen der Meinungsäußerungsfreiheit? Was ist ein Hassverbrechen? Ist der Islam eine Religion, die Terrorismus und Gewalt hervorruft, oder ist das eine Lüge?

Sollen jene, die an eine solche Lüge glauben, dafür verwarnt oder bestraft werden? In letzter Zeit gab es zu diesem Themen jede Menge Debatten, insbesondere im Angesicht der Reaktionen, die ein Amateurfilm nach sich gezogen hatte, der zuerst Panik und dann handfeste, fürchterliche Attacken anzustacheln vermochte.

Die Empfindlichkeiten

Ich denke, es stellt einen unterbewerteten Aspekt hinsichtlich menschlicher Emotionen und menschlicher Ethik dar, Akte der Herabwürdigung und Verächtlichmachung im Hinblick auf gewisse Dinge zu beobachten, die wir nicht mögen und denen wir nicht zustimmen, und sich die Frage zu stellen, ob es in einem „Verbrechen“ enden wird oder nicht.

In diesen Tagen werden wir Zeugen des Funktionierens eines Mechanismus der „Bestrafung“, an den wir uns gewöhnt haben und den wir sogar unterbewusst internalisiert haben. Diese Politik der Bestrafung kann verbal wie mittels des geschriebenen Wortes geschehen und bis in den Tratsch am nachmittäglichen Kaffeetisch, im Klassenzimmer, am Arbeitsplatz oder in der Militärunterkunft reichen. Menschen können auf Grund ihrer ethnischen Herkunft, Religion, Überzeugung oder sogar auf Grund von Dingen ausgegrenzt und entfremdet werden, die sich in ihrem Schlafzimmer zutragen, oder bloß auf Grund der Tatsache, dass man blonde Haare hat; aus Beleidigungen können Schläge und Tritte werden und manchmal können Menschen in Mitten der Verunsicherung sogar getötet werden.

Die Toleranz, über die wir oft in der Türkei sprechen – und im Wesentlichen geht es um die Nichtausgrenzung von Menschen auf Grund ihres Namens, ihrer Überzeugung, ihrer Kleidung usw. genauso wie um die Nichtausgrenzung dieser Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung und darum, sie nicht davon abzuhalten, nach ihren eigenen Vorstellungen leben zu dürfen – ist nun schon seit langer Zeit das Thema einer wechselvollen Debatte, die geprägt ist von einer Rhetorik über „das, was aus den Werten dieser Nation und dieser Republik“ werden würde.

Als Nichttürke war ich fast von Kindesbeinen an Versuchen ausgesetzt, mich als „den anderen“ darzustellen. Meine Gefühle würden nicht nur durch die Beleidigungen und das Verhalten verletzt, das man mir entgegenbrachte, sondern vielmehr durch diejenigen, die das alles mit angesehen und –gehört hatten und trotz allem ihre Stimme nicht dagegen erhoben hatten. Die Folge war, dass ich immer sehr negativ auf Menschen reagiert habe, die andere wegen Unterschiedlichkeiten verletzt hatten, die sie zwischen sich und ihnen ausgemacht hatten. Und während manchmal Gesetze geschafft hatten, manche dieser Beleidigungen oder verbal oder geschriebene Attacken in die Schranken zu weisen, gab es auch Zeiten, da hasserfüllte Reden einer Nachbarin schon ausgereicht hatten, um mich zu kränken.

Von einem sehr jungen Alter an wird uns, unabhängig von der Tatsache, dass Konzepte wie „Privatleben“ oder „Entscheidungen“ mit uns nicht diskutiert werden, wenn wir Kinder sind, jene Wahrheit beigebracht, die immer wieder im späteren Leben zu Vorfällen und Angriffen führt: Das gesamte Konzept von „Verschiedenheit“ und „Diversität“, das uns nicht beigebracht wird, und das wir deshalb nicht verstehen, hat etwas mit der Idee der Heiligkeit der Entscheidungsfreiheit zu tun, die zu verstehen uns dadurch auch unmöglich gemacht wird, und die wir in weiterer Folge auch nicht als essenziellen Wert im Leben begreifen.

Man ersetze nicht ein Klischee durch ein anderes

Es gibt heute noch viele Menschen, die ausgegrenzt und entfremdet werden, weil sie nicht in das soziale Bild passen, das einer sehr erheblichen Anzahl von Menschen vorschwebt. Dabei handelt es sich um ein soziales Bild, das nicht einmal eine ideologische Basis in irgendeinem Sinne aufweist, dessen Erschaffung aber auf einige sehr oberflächliche Revolutionen zurückgeht, die in Europa arrangiert wurden und deren Auswirkungen manche gerne unserer Gesellschaft aufdrücken wollen. In Kreisen, in denen es als der heiligste Wert angesehen wird, einfach nur „westlich“ zu sein, ist es eine bedauerliche Fügung, dass religiöse oder ethnische Freiheiten nicht auf der Liste der generellen Freiheiten stehen. Es gibt Menschen, die es nicht begreifen, dass es essenzielle Freiheiten sind, nach seinen eigenen Glaubensvorstellungen leben oder seine Muttersprache sprechen zu können.

Es gab und gibt viele, viele Individuen und Gruppen in der Türkei, die ausgegrenzt, entfremdet, verletzt, Druck ausgesetzt oder kollektiv bestraft wurden, nur auf Grund der Tatsache, dass sie „anders“ sind. Ich denke nicht, dass es unvernünftig wäre, würden diese Menschen und Gruppen versuchen, einander besser kennen zu lernen oder einander sogar wechselseitig zu beschützen und zu helfen. Ein wichtiger Punkt, der auf dem Weg zur „Diversität“ unbedingt zu beachten ist, ist, dass Social Engineering, dessen Ziel es ist, die „alten“ lediglich durch „neue“ Einheitsmenschen zu ersetzen, ein absolutes Unding sein muss. Wir haben es gar nicht nötig, die alten verbotenen, schmerzvollen und klischeeerfüllten Bilder durch unsere eigenen abzulösen. Wir müssen nur unser Möglichstes tun, um jedwede Art der Initiative dabei zu unterstützen, ihren Weg nach ihren Vorstellungen gehen zu können.

Ehrliche Schritte

Wir müssen mehr ehrlich gemeinte Schritte unternehmen, um sicher gehen zu können, dass die positive Ereignisse, die sich in den letzten Jahren im Rahmen des “Dialogs der Religionen” vollzogen hatten, nicht nur den Zweck erfüllten, Bilder zu produzieren, die man in Werbebroschüren der Stadtverwaltung von Istanbul abdrucken konnte. Vorfälle wie im letzten Oktober, als ein Taxifahrer auf eine Mitfahrerin einschlug und sie als „Kafir“ beschimpfte, als er entdeckte, dass sie Armenierin war, geben uns das Gefühl, manchmal würden wir „religiöse Sensibilitäten“ nur im Einklang mit bestimmten Bedingungen analysieren. Das Gleiche ist, wenn Menschen durch Nachbarn belästigt oder bedrängt werden; wenn nichts geschieht, um die Situation zu klären, gewinnen sie den Eindruck, sie hätten keine Wahl, als ins Ausland zu ziehen, und auch das verstärkt den Eindruck, „religiöse Sensibilitäten“ wären nur für bestimmte Menschen von Bedeutung.

Es gibt ein einfaches und entscheidendes Thema be idem wir wirklich zu einer einhelligen Übereinstimmung kommen müssen, wenn wir in der Lage sein wollen, miteinander in Frieden zu leben: Einander nicht zu verletzen. Und über diese Verpflichtung, den anderen nicht zu verletzen, hinaus, ist es genauso wichtig, fähig zu sein, unsere Besonnenheit zu wahren, wenn wir verletzt werden und es zu vermeiden, als Reaktion darauf unbedachte, schnelle und unausgegorene Entscheidungen zu fällen.

Vor einigen Jahren, als der Autor Can Yücel, den ich sehr schätze, über die Jungfrau Maria geschrieben hatte, zog das Thema reichlich Kritik nach sich. Als man ihn darauf ansprach, dass manche Christen sich durch das, was er schrieb, beleidigt fühlten, antwortete er: „Wie viele Armenier gibt es denn in der Türkei, und wie viele können lesen?“ – Diese Antwort hat mich sehr traurig gemacht. Mein Gefühl der Kränkung hatten nicht nur damit zu tun, wie ein Mensch, der selbst einen religiösen Glauben hat, etwas herabwürdigen könnte, was anderen heilig ist, sondern auch, wie er in einem Land, in dem so viele Armenier leben, die ihn verehren, über diese so ignorant urteilen könnte.

Muslime, die verletzt wurden und selbst verletzen

In letzter Zeit haben wir aus aller Welt Ereignisse verfolgen müssen, die zeigen, wie Muslime verletzt und beleidigt wurden, vor allem von denjenigen, die es gerade als ihr Ziel betrachten, sie zu treffen. Leider waren viele Muslime in dieser Situation nicht in der Lage, ihre Besonnenheit zu wahren, was Attacken zur Folge hatte.

Heute werden in der Türkei viele Muslime durch die Worte beleidigt, die Sevan Nishanian schrieb. Die wütenden Reaktionen reichten von „Sevan sollte zwangsausgewiesen werden“ bis zu „Lasst uns den Armeniern zeigen, was Sache ist“. Gleichzeitig aber sind jene, die tatsächlich beleidigt wurden, zwar traurig, aber sie sagen kein Wort: Es ist klar, dass sie traurig macht, wie jemand diese Worte sprach, mit dem sie Hand in Hand gearbeitet hatten, um der Türkei Veränderung zu bringen. Sevan schrien seine entzweienden Worte zwar unter seiner Identität als Armenier, aber noch eher als jemand, der „keine guten Beziehungen zum Islam“ habe. Zur gleichen Zeit waren diejenigen Kräfte, die unfähig sind, sich selbst mit den nur noch wenigen Armeniern im Land abzufinden, einmal mehr in der Lage, diesen Vorfall in die Kategorie „armenischer Verräter“ zu drängen.

Grundlegende Rechte und Freiheiten, Gerechtigkeit, Gesetze und Regeln sind vitale Normen für eine demokratische Gesellschaft, aber wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht, denke ich, dass wir uns entsprechend unserer menschlichen Emotionen und unseren Moralauffassungen verhalten sollen. Eine Person, die beschuldigt wird, ein „Hassverbrechen“ begangen zu haben, ins Gefängnis zu werfen, mag eine Strafe für diese Person herbeiführen, aber löscht nicht den Hass aus seinem Herzen. Meine Freunde, ich glaube nicht, so weit gehen zu wollen, andere zu beleidigen um meiner „Gedankenfreiheit“ willen. Bei allem Verständnis dafür, religiösen Glauben auf den Prüfstand stellen oder Dinge, die einem anderen heilig sind, in Frage zu stellen: ich akzeptiere selbst die Farben, die jemand liebt. Lass diese Person Rot lieben, während Du Blau magst. Ich unterstütze weder die Herabwürdigung oder Beleidigung von Rot, noch das übertriebene Preisen des Blaus.

Es gab eine Versammlung auf dem Istanbuler Taksim-Platz, um dem Massaker an den Armeniern im Jahre 1915 zu gedenken. Es war eine Versammlung, an der selbst einige Armenier Angst hatten, teilzunehmen, aber nichtsdestotrotz hat sich eine Gruppe geweigert, Konzessionen zu machen und ist an diesem Tag aufmarschiert, obwohl viele „Patrioten“ und „Sozialisten“ sie als „Handlanger des Imperialismus“ beschimpften. Was umso beachtlicher ist: In dieser Gruppe waren Muslime. Junge Mädchen mit Kopftüchern saßen Arm in Arm bei uns und junge muslimische Männer hielten Poster und Schilde hoch. Ich kann mich gut daran erinnern, welches Gefühl der Stärke und Hoffnung die bloße Anwesenheit dieser Mitstreiter uns an jenem Tag verlieh, die sich uns anschlossen mit dem Ziel, unseren eigenen Schmerz nachzuvollziehen, einen Schmerz, der durch die offizielle Geschichtsschreibung des Landes nicht akzeptiert wird.

Ich unterstütze die Idee, dass Menschen nicht auf Grund von Gesetzen oder irgendwelchen „Konzepten von Freiheit“ den Glauben anderer Menschen respektieren, sondern weil ihr Gewissen es ihnen gebietet. Meine Absicht ist es, zu schützen, was anderen Menschen heilig ist, wie das, was mir selbst heilig ist. Ein Wert, der sich mit deinen eigenen Gedanken und Überzeugungen nicht überlappt, sollte Dir zuerst und vor allem deshalb wichtig sein, weil Dein Freund ihn für wichtig halten und an ihn glauben könnte; am Ende ist ja das, was dabei wirklich wichtig ist, Dein Freund.

* Aline Ozinian ist Doktorandin an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Staatlichen Universität Eriwan. Parallel dazu ist sie Regionale Projektkoordinatorin des Kaukasischen Business- und Entwicklungsnetzwerks (CBDN) sowie Presse- und PR-Koordinatorin des Rats für Türkisch-Armenische Businessentwicklung (TABDC). Sie hat bereits mehrere Studien zu den türkisch-armenischen Beziehungen verfasst und ist politische Analystin für die „Zaman“.