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Politik

Rückkehr Tschetscheniens auf die Tagesordnung unerwünscht

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Seit der brutalen Geiselnahme von Beslan hat die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung jegliches internationales Prestige verloren. Die Anschläge in Boston kommen deshalb gerade den dortigen Separatisten außerordentlich ungelegen. (Foto: ap)

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Rückkehr Tschetscheniens auf die Tagesordnung unerwünscht
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Die Bombenanschläge auf den Boston-Marathon am 15. April entfachten ein enormes Medieninteresse am Nordkaukasus, dem Heimatland der Verdächtigen, Tamerlan und Dzokhar Tsarnaev, nachdem das Land nach den Kriegswirren der Jahrtausendwende und der blutigen Geiselnahme von Beslan 2004 fast völlig aus der Berichterstattung verschwunden war.

Die öffentlich zugänglichen Details der Onlineaktivitäten der Brüder vor dem Anschlag durchkämmend, fand die US-Presse Verbindungen zwischen ihrer tschetschenischen Herkunft und dem islamischen Glauben. Wie immer variiert die Qualität dieser Analysen und bei einem so brisanten Thema fällt es schwer, die am sorgfältigsten recherchierten Berichte herauszufiltern, was dazu führen kann, dass man sich in einem Labyrinth aus Mythen und unbestätigten Annahmen von Medien aus aller Welt verliert. Dass diese tragischen Ereignisse so plötzlich gekommen waren, erhöht noch einmal den Druck auf liebgewonnene Überzeugungen.

In der Kaukasus-Region hoffte man schon seit langem auf mehr politisches Interesse seitens der USA – allerdings natürlich aus völlig anderen Gründen als die Tsarnaev-Brüder, da der Nord-Kaukasus als Fundament der djihadistischen Bewegung gilt. Medien, die sich bereits seit längerer Zeit mit der Separatistenbewegung Tschetscheniens befasst hatten oder mit dieser sympathisieren, haben sowohl Verschwörungstheorien als auch belastbarer erscheinende Annahmen über das Motiv für diese terroristischen Angriffe zusammengetragen. Dabei wurden drei davon am häufigsten kolportiert:

1. Das sogenannte „Kaukasus-Emirat” habe die Angriffe in Auftrag gegeben

Diese Annahme basiert auf Tamerlan Tsarnaevs Besuch in Russland vor etwa einem Jahr, man behauptet, er habe sich mit dem Anführer des „Kaukasus-Emirats” Doku Umarov in Verbindung gesetzt, der Tsarnaev daraufhin beauftragt hätte, den Angriff gegen den „Feind des Islams” auszuführen. Möglich wäre aber auch, dass Umarov die Bombenanschläge in Auftrag gegeben hat, um die Aufmerksamkeit der USA auf die Probleme in Tschetschenien zu lenken. Beide Interpretationen erscheinen allerdings problematisch.

Zum einen änderte die tschetschenische Bewegung ihr Erscheinungsbild, besonders nach dem Tod des ersten Präsidenten der Tschetschenischen Republik, Dzhokhar Dudayev sowie seines Nachfolgers Aslan Mashadov, der gegen eine „Islamisierung des Konflikts” war. Unter dem Einfluss arabischer Mujahideen hat sich die tschetschenische Bewegung jedoch Stück für Stück von einer nationalistischen zu einer tschetschenisch-djihadistischen gewandelt. Seit Mitte der 2000er haben die Wahhabiten ihren Einfluss ausgebaut und das tschetschenische Konzept der Unabhängigkeit verändert. Von da an war die Bildung eines islamischen Emirats das Ziel. Die Motive sind jedoch anders als die der Terroristen von Al Qaida, die im Fokus der USA stehen.

Zum anderen wurde behauptet, dass Umarov auf eine der schwarzen Listen der USA gesetzt wurde und das Land dafür bestrafen wollte. Während Umarov die USA zwar als „Feind des Islams” bezeichnet, sind seine hauptsächlichen Feinde jedoch Moskau und seine Verbündeten. Des Weiteren widmet Umarov den USA in seinen Reden keine besondere Aufmerksamkeit. Für ihn ist jeder, der die russischen Autoritäten unterstützt, der Feind.

Außerdem ist folgendes zu beachten: Im Februar 2012 ordnete Umarov an, keine Zivilisten mehr ins Visier zu nehmen und seitdem waren die Rebellen in keine Art von willkürlicher Gewalt verwickelt, obwohl es im Zuge von Kampfhandlungen ein paar zivile Opfer gab. Hinzu kommt, dass der Daghestani-Teil des Nord-Kaukasus-Aufstandes formell jegliche Beteiligung an den Anschlägen in Boston bestritten hat.

2. Die Tsarnaev-Brüder planten diesen terroristischen Akt, um westliches Interesse am Kaukasus zu wecken

Die Bewegung änderte ihr Erscheinungsbild 2004 nach der berüchtigten Geiselnahme an der Schule in Beslan, deren Brutalität die ganze internationale Gemeinschaft schockierte und abschreckte. Nach diesem Akt des Terrors war die tschetschenische Bewegung paralysiert – der Präsident der Tschetschenischen Republik und einer der Anführer der tschetschenischen Bewegung, Alan Mashadov, wiesen die Stellungnahme von Shamil Basayer zurück, der den Terror in Beslan im Zusammenhang mit dem Kampf um Unabhängigkeit als akzeptabel rechtfertigte. Später wurden sowohl Mashadov als auch Basayer von Russland eliminiert.

Gleichzeitig verringerte sich die Ächtung Russlands seitens der Internationalen Gemeinschaft im Vergleich zur Situation davor, als man der russischen Armee zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in Tschetschenien vorgeworfen hatte. Nach 2004 fand die zweite und größte Emigrationswelle in der Geschichte Tschetscheniens statt. Man darf nicht vergessen, dass die Kaukasier im Allgemeinen für ihren stark ausgeprägten Sinn für Familienehre bekannt sind und die Tschetschenen sehr gut in dieses Schema passen. Auch deswegen teilte der Onkel von Tamerlan Tsarnaev den US-Medien wohl mit, dass sein Neffe „Schande über die gesamte tschetschenische Nation gebracht hätte”.

3. Die Anschläge in Boston waren ein Vorwand für die USA, ihre militärische Präsenz im Kaukasus zu verstärken

Russische Experten oder zumindest solche, die sich dafür halten, kolportierten in die Richtung verbreiteter 9/11-Verschwörungstheorien gehende Darstellungen, die in Richtung „Inside Job“ gehen würden. Auch zahlreiche europäische und US-amerikanische Verschwörungstheoretiker sprangen auf diesen Zug auf. Die USA wollten auf diese Weise ihre militärische Präsenz im Kaukasus ausbauen, vorrangig in Azerbaijan, danach variieren die den Amerikanern zugeschriebenen Ziele. Einmal soll diese angebliche Einmischungsstrategie der Notwendigkeit einer Post-Afghanistan-Strategie geschuldet sein, dann wieder sollen georgische Geheimdienste die Kämpfer im Nordkaukasus auf amerikafreundlichen Kurs bringen, dann wieder soll dies alles Teil eines Plans zur Destabilisierung Russlands sein und die Schwierigkeiten mit Extremisten in den südlichen Regionen des Landes verstärken. All diese Vermutungen sind allerdings völlig haltlos.

Der Grund, aus dem Russland versucht, die Aufmerksamkeit von den Verbindungen zum Nord-Kaukasus abzulenken ist die Angst, die Spannungen könnten den Erfolg der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotchi schmälern. Russland warnte mehrfach vor Djihadisten und Mujahideen, welche die Olympischen Spiele unter Umständen ins Visier nehmen könnten. Liegt es aber in Russlands Interesse, mehr Aufmerksamkeit auf die Angelegenheiten im Nord-Kaukasus zu lenken, wo Moskau sich mit aller Kraft gegen jegliche Weiterentwicklungen stemmt, aber niemand über die Verletzung von Menschenrechten spricht? Oder sind die USA in ihrer Anti-Terror-Strategie für den Nord-Kaukasus auf die Kooperation Moskaus angewiesen – was Moskau jedoch als reine Inlandsmission ansieht? Darüber hinaus wäre es wohl kaum in Russlands Interesse, die Anschläge in Boston als Vorwand für mehr Gewalt im Nord-Kaukasus zu nutzen, was doch anti-tschetschenische und anti-islamische Stimmung in Russland anfachen könnte und die Konflikte wieder aufflammen lassen könnte.

Zu guter Letzt besteht die Gefahr, dass die Anschläge in Boston und ihre Verbindung zum Nord-Kaukasus die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotchi in ein Zwielicht rücken könnten. Gesteigertes westliches Medieninteresse könnte dazu führen, dass ein größeres Augenmerk auf die Verletzung der Menschenrechte und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Region gelegt wird, wenn Moskau sich jedoch dagegen weigert, die Region für westliche Medien zu öffnen, könnte es seine Bestrebungen gefährden, Russland bei den Olympischen Spielen in Sotchi als aufstrebende Nation zu präsentieren, die jederzeit Herr der Lage ist.

Autoreninfo: Zaur Shiriyev ist Chefredakteur des „Caucasus International” (CI) und schreibt auch für die „Today’s Zaman”, aus der auch der Artikel stammt. Shiriyev’s Hauptaugenmerk liegt auf der Schwarzmeer-/Kaukasusregion, besonders interessiert er sich für die EU-Politik in diesem Gebiet.