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Russland: Großer Staat, kleine Leute

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Vom Putinstaat über die Oligarchenwirtschaft bis zur Wahlheimat einiger Schauspieler. Über das größte Land der Erde existieren etliche Klischees. Doch was und wer bewegt unseren großen Nachbarn im Osten wirklich? (Foto: rtr)

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Russland: Großer Staat, kleine Leute
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Im Februar 2008 fand in Russland eine weitere unspektakuläre „Wahl“ statt. Ebenso wie es im Jahr 2004 im Vorhinein bekannt war, dass Vladimir Putin Staatspräsident wird, war diesmal der Sieg von Putins Nachfolger Dmitrij Medwedjew bereits vor den Wahlen beschlossene Sache. In dieser Zeit, die nichts mit Demokratie zu tun hat, werden Gegenkandidaten wie der ehemalige Schachweltmeister Gari Kasparov oder der frühere Premierminister Mihail Kasyanov von den staatsgelenkten Medien entweder übersehen oder niedergemacht. Der Satz „Ich gebe meine Stimme keinem der Kandidaten“ wurde aus dem Wahlgesetz gestrichen, und außerdem wurde auf die Gefahr hin, dass Wähler mit der Haltung „Das Wahlergebnis ist ohnehin bekannt…“ zu Hause bleiben, die Klausel über die Mindestbeteiligung, die Bedingung für die Gültigkeit der Wahlen war, aufgehoben. Gegnerische Parteien wie Jabloko (Apfel) und die Union der rechten Kräfte wurden ohne handfeste Gründe von den Wahlen ferngehalten und stattdessen neue Oppositionsparteien geschaffen. Ein altmodischer Kommunist namens Genadiy Zyuganov und ein faschistischer Clown namens Vladimir Jirinovski erschienen erneut auf der politischen Bühne. Wieder wurden Studenten, Fabrikarbeiter und Beamte unter Druck gesetzt, damit sie ihre Stimme „richtig“ einsetzten. Internationale Wahlbeobachter wurden behindert. Kenneth Roth, Vorsitzender des Human Rights Watch, der kein Visum erhielt, bemerkte, dass er zuletzt von der nigerianischen Junta im Jahre 1997 ein Einreiseverbot erhalten habe und bekundete seine Bedenken in Bezug auf die Geschehnisse in Russland.

Um das heutige Russland zu verstehen, bedarf die Regierung Putins einer nüchternen Analyse. Geheimagent Putin hielt Russland, welches sich nach der Sowjetregierung durch eine turbulente Zeit schlug, acht Jahre lang mit einer verhältnismäßigen Stabilität aufrecht. Die Regierungsvertreter, die sich davor scheuen, Begriffe wie „Menschenrechte“ und „Freiheit“ zu verwenden, bevorzugen das Wort „Stabilität“. Die Wirtschaft ist um 70 Prozent angewachsen, das Durchschnittseinkommen hat sich verdoppelt, das Haushaltsdefizit wurde geschlossen und die Rücklagen der Russischen Zentralbank sind auf 480 Milliarden Dollar angestiegen. Der Tschetschenienkrieg wurde vorübergehend gestoppt. Wie man in der Türkei zu pflegen sagt, hat Putin „Russland auf die Beine geholfen“.

„Stabilität“ statt Menschenrechte

In derselben Periode wurden die Befugnisse regionaler Autoritäten eingeschränkt und gegen das Grundgesetz Russlands die ganze Macht in Moskau konzentriert. Außer einer Zeitung und einem Radiosender wurden die Medien unter staatliche Kontrolle gebracht. Da die Morde an den Journalisten nicht geklärt werden konnten, sehen sich Mitarbeiter der Medien zu einer Autozensur gezwungen. Oppositionsparteien wurden aufgelöst. Oligarchen, die sich an der Macht zu schaffen machten, wurden entweder des Landes verwiesen (Boris Berezovski) oder ins Gefängnis geworfen (Mihail Hodorkovski), ihr Vermögen unter den „artigen“ Oligarchen wie Roman Abramovitsch aufgeteilt. Nichtregierungsorganisationen wurden zum Schweigen gebracht. Vier von fünf Beamten im gehobenen Dienst wurden von Geheimdienstkreisen ernannt. Das Parlament (Duma) wurde zu einem überflüssigen Organ herabgesetzt, das die Gesetze des Kremls legitimiert, und die Gerichte wurden auf dieselbe Art zum Anhängsel der Exekutiven.

Der ehemalige deutsche Bundeskanzler und gute Freund Vladimir Putins, Gerhard Schröder, behauptet, Russland könne die europäischen Standards nicht erreichen und das Land müsse, bevor es eine Demokratie werde, eine Zeit lang von „einer starken Hand“ regiert werden. Aber inwieweit hat Putin, der die Zügel nicht locker ließ, das Land auf eine Demokratie vorbereitet?

Die Bedingungen, um in die Zukunft zu investieren, waren gut. Während die Ölpreise zu Zeiten Jelzins bei 16 Dollar lagen, stiegen sie unter Putin zuerst auf 40, dann auf 60 und liegen heute bei 100 Dollar. Wie wurde dieses Geschenk des internationalen Marktes an den Kreml ausgenutzt? Wurde in Schulen, ins Gesundheitswesen oder in den Rentenfond investiert? Wurde der Zerfall des Militärs aufgehalten? Wurden die Korruptionen, die sich durch alle Schichten des Staates und der Justiz hindurchziehen, unterbunden? Die Antwort auf diese Fragen, die der Oppositionsführer Boris Nemtsov und der liberale Analyst Vladimir Milov in ihrer vor den Wahlen veröffentlichten Untersuchung mit dem Titel „Putin. Eine Bilanz“ stellen, lautet leider „nein“.

Hier einige Zahlen:
Wenn man den starken Anstieg der Ölpreise betrachtet, dann hätte man nicht ein jährliches Wirtschaftswachstum von 6-7 Prozent, sondern von 10-15 Prozent erwartet. Die Wirtschaft ölreicher Länder wie Kasachstan und Aserbaidschan weisen diese Wachstumsrate auf. Anstelle der Entwicklung gesunder Wirtschaftssektoren wurde eine Welt von Luftblasen auf dem Immobilien- und Börsenmarkt geschaffen. Firmen kauften Immobilien und investierten in die Aktien anderer Firmen, anstatt sich auf ihre eigentlichen Aufgaben zu konzentrieren. Gazprom, das sogenannte „Nationalgut“, ergatterte Anteile in den Bereichen Bankwesen, Versicherungen und Medien, anstatt in Technologien zu investieren, die Erdgas und Rohöl suchen und an die Oberfläche bringen. Obwohl der Anteil des hervorgebrachten Erdgases nicht angestiegen ist und seine Schulden um das Dreifache angewachsen sind, erreichte der Gazprom-Konzern, dessen Marktwert im Jahr 2001 bei 10 Milliarden Dollar lag, innerhalb von sieben Jahren einen Wert von 350 Milliarden Dollar. Internationale Fachleute für Energie verweisen darauf, dass diese „Luftblase“ sehr bald platzen wird.

Korruptionsstatistiken von „Transparency International“ zufolge rutschte Russland zwischen den Jahren 2000 und 2007 von Platz 82 auf Platz 143 und liegt nun auf einer Höhe mit Ländern wie Gambia, Indonesien und Togo. Laut Daten der „INDEM-Stiftung“ beträgt die Summe der in Russland jährlich bezahlten Bestechungsgelder das Dreifache des Staatshaushaltes. Die Akte für Menschenrechte in Russland ist auch bedenklich. Jedes fünfte Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg betrifft einen russischen Staatsbürger. Der russische Staat verliert 90 Prozent dieser Verfahren.

Die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland (65 Jahre) entspricht der der Entwicklungsländer Afrikas (der Durchschnitt Westeuropas liegt bei 78 Jahren). Die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung Russlands, die immer mehr Alkohol und Tabak konsumiert, beträgt 59, die der Frauen 72 Jahre. Während Russen im Jahr 15 Liter reinen Alkohol konsumieren, teilt die Weltgesundheitsorganisation mit, dass bereits acht Liter kritisch seien und ein darüber liegender Verbrauch bleibende Schäden hervorrufe. Gleichzeitig erinnert die Anzahl der Morde an die „unruhigen“ Jahre 1994 und 1995. Russland schaffte es mit seinen jährlich fast 30.000 Morden neben Ländern wie Kolumbien, Honduras und Südafrika in die Top Ten-Liste.

Statt Reformen aber gibt es „Nationalprojekte“. Diese durch Erträge von Erdgas und Rohöl finanzierten Projekte kosteten im Jahr 2006 sechs Milliarden, 2007 gar 10 Milliarden Dollar. Für 2008 sind 12 Milliarden geplant. Dennoch scheinen diese Summen neben den 39 Milliarden Dollar, die in diesem Jahr allein Beamten und Geheimdienstlern zugeteilt wurden, nicht erwähnenswert.

Das Militär, dessen veraltete Ausrüstung nicht erneuert wird, ist gekennzeichnet durch ein primitives und brutales Hierarchiesystem, genannt „dedovsina“. Die Straßen sind in einem katastrophalen Zustand. Die Gehälter von Ärzten, Lehrern, Professoren und Museumsangestellten kommen nicht über 300 Dollar. Gleichzeitig stieg die Zahl der Milliardäre Russlands – trotz der offiziellen Kriegserklärung gegen die Oligarchen. Während im Jahr 2000 in die Liste der reichsten Menschen der Welt der Zeitschrift „Forbes“ kein einziger Russe Eingang gefunden hatte, erreichte das Gesamtvermögen der 53 aufgelisteten Russen im Jahr 2007 einen Wert von 282 Milliarden Dollar. Ein Großteil dieser Reichen sind Duma-Abgeordnete. Die klein- und mittelständischen Unternehmen, die lebenswichtig für die Entwicklung einer Mittelschicht mit demokratischem Bewusstsein sind, kämpfen ums Überleben. Während in der EU im Durchschnitt auf 1000 Personen 45 klein- und mittelständische Unternehmen kommen, steigt diese Zahl in Russland nicht über sieben. Der russische Export besteht zu 75 Prozent aus Bodenschätzen, der andere große Teil aus Waffen. Russische Autos und Maschinen werden im Vergleich zu früher kaum noch nachgefragt.

Der Vergleich mit Peter dem Großen trifft zu

Bürger, die ihrer Polizei nicht vertrauen, Kläger, die ihren Richter nicht respektieren können, Soldaten, die beim Gegenübertreten eines Offiziers vor Angst zittern, Kranke, die die Armut ihrer Ärzte bemitleiden, Journalisten, deren Stifte austrocknen, weil Mörder nie ermittelt werden können, Professoren, die vor jeder Prüfung dazu gezwungen sind, von ihren Studenten zu kassieren, da sie sonst nicht überleben können… Diese Auflistung kann noch weitergeführt werden. Die Typisierung der kleinen Leute, die in Aleksandr Puschkins „Der Eherne Reiter“ und in Nikolai Gogols „Der Mantel“ dargestellt werden, ist auch im heutigen Russland nicht überwunden. Die „kleinen Leute“, die machtlos gegenüber dem Staat sind, ihr Schicksal für ihre Sorgen verantwortlich machen und bis zum letzten Atemzug vom Zaren (oder nationalen Führer), von dem sie ihr Leben lang im Kampf mit der Korruption und der Bürokratie im täglichen Leben keine Hilfe bekommen haben, Unterstützung erwarten, wurden Jahrhunderte lang sowohl im zaristischen Russland als auch in der Sowjetzeit mit Sorgfalt erzogen. Putin, der mit Peter dem Großen verglichen wird, der aus Russland ein Kaiserreich machte, indem er dem Volk Leiden zufügte, führte diesen Prozess fort. Die „kleinen Leute“ brauchen keine Demokratie, sondern eine schlichte „Held-Feind“-Ideologie, eine „starke Hand“, das Bild eines „großen Staates“, auf den sie stolz sein können. Auch wenn Vladimir Putins Russland von außen betrachtet wie ein „großer Staat“ erscheint und seine Atomwaffen und Erdgasvorkommen Angst und Achtung hervorrufen, leben in diesem Land dennoch kleine Leute. Ein Land, in dem in den letzten sieben Jahren 600 000 neue Beamte eingestellt wurden, in dem eine alte Generation sich über die Erhöhung der Rentengelder vor den Wahlen freut und eine junge Generation, die dazu erzogen wird, „Zar“ Putin zu verehren. Es fällt schwer zu hoffen, dass der neue Präsident Dmitrij Medwedjew das System, das seit acht Jahren besteht und von dem er ein Teil ist, brechen wird.

Dieser Artikel erschien 2008 in der Zeitschrift „Zukunft“.