DTJ-Blog
„Schatz, ich war noch nie in einem Türkenhaus“
BLOG Ein Paar. Der Mann aus Hagen, die Frau aus Sachsen. Stehen vor der Tür. Ich bitte sie hereinzukommen. Die Frau guckt mich an, als sei ich nicht Alime, sondern ein Alien. Es kommt zum Gespräch. Das Paar unterhält sich, während ich die Sachen hole. Die Frau zu ihrem Partner:
„Schatz, ich war noch nie in einem Türkenhaus. Sieht ja ganz normal und sauber aus hier.“
Das sagt sie laut. Blut spritzt in mein Gehirn, würde man im Türkischen sagen („kan beynime sıçradı“). Anders kann ich diesen Augenblick voller Wut nicht beschreiben. Da muss ich ziemlich „türkisch“ gefühlt haben. Ich gehe dazwischen:
„Das ist eine Wohnung, kein Haus. Das sind unsere Gardinen. Das sind Teppiche. Stühle. Hier unsere Essecke, dort essen wir. Messer, Gabel und Löffel haben wir auch. Wir essen nur Spiegelei mit den Fingern. Das hier ist eine Küche. Oh! Das da ist ein Çaydanlık. Damit macht man Tee. Çay heißt das bei uns. Haben Sie keine türkischen Freunde, die Sie zu sich nach Hause eingeladen haben?“
„Nein. Ich habe keine türkischen Freunde. Ich lebe in Sachsen. Bei uns im Dorf gibt es keine Türken. Bin jetzt nur hier bei meinem Freund zu Besuch in Hagen.“
Ich lache:
„Dann haben Sie jetzt die Chance ihres Lebens, viele Türken zu sehen. Erschrecken Sie sich nicht, wenn Sie Familien spazieren gehen sehen. Bei Türken besteht eine Familie aus mindestens zehn, manchmal sogar aus fünfzehn Mitgliedern. Nicht, dass Sie dann meinen, die würden die Absicht haben, auf Sie loszugehen, um sie zusammenzuschlagen.“
Der Mann lacht. Die Frau behält ihre ernste Mimik bei:
„Ich weiß nicht, ob ich unbedingt Türken sehen will.“
„Sie werden müssen.“
„Haben Sie denn uns eigentlich über Ebay geschrieben?“
„Ja, das war ich.“
„Hätte nicht gedacht, dass sie mit Kopftuch sind. Sie können ja sehr gut Deutsch.“
„Na sehen Sie mal. Das auch noch! Ärgerlich für Sie, nicht wahr? Jetzt müssen Sie vorsichtig sein, denn die Anbieterin bei Ebay könnte ’ne Türkin sein. Und sowas erkennt man nicht auf einmal. Die schreiben wie die Deutschen. Die sprechen wie die Deutschen. Und dann stehen sie plötzlich vor einem… Totale Enttäuschung, böse Überraschung.“
Das mit dem Kopftuch. Ach ja. Das erläutere ich eigentlich ungern. Aber an jenem Tag bin ich besonders gut drauf und lasse mich darauf ein:
„Nehmen Sie also an: Ich liebe Farben. Ich liebe es bunt zu sein. Da es ziemlich schädlich für meine schönen Haare wäre, sie in kurzen Zeitabständen ständig zu färben, entschied ich, sie mit bunten Tüchern zu bedecken.
Manchmal grün, manchmal rosa und fast immer blau. Stellen Sie sich mal vor, ich würde die Haare so färben.
Was würden die Leute von mir denken?“
Jetzt lachen beide. Mann aus Hagen. Frau aus Sachsen.
„Ich würde Ihnen gerne Çay anbieten, aber leider muss ich los. Meine Kinder abholen. Die sind nämlich heute zu Pascal eingeladen. Hier ist das „noch“ normal, dass Abduls oder Ahmets bester Freund Pascal oder Luis heißt.“
Das ist so schön. Das finde ich an Deutschland so schön. Wirklich so toll! Dass so viele verschiedene Menschen aus so vielen verschiedenen Ländern hier vertreten sind.
„Naja. Kann jeder so sehen, wie er will. Aber ich habe noch eine Frage“, sagt die Frau.
„Bitte!“
„Dürfen sie denn einfach so wildfremde Menschen hereinlassen, wenn sie gar keinen Mann zu Hause haben?“
„Das war heute ein Notfall. Nur deshalb ist es dazu gekommen. Ich musste. Ich hätte meinen Neffen rufen können, der 40 Kilometer weiter weg wohnt, aber das hätte sich nicht gelohnt.“
Sie scheint mir zu glauben. Sie geht davon aus, dass ich es ernst meine. Sie ist fest davon überzeugt, dass es ein Notfall war. Dass ich nur deshalb befähigt war, sie hineinzulassen. Also glaubte sie, im Normalfall ginge das gar nicht. Ich fühle mich irgendwie schlecht.
Denke mir:
Es ist ethisch nicht in Ordnung, Menschen zu täuschen.
Fühle mich schuldig. Diese Dame, die schockiert und grimmig guckte, den Kopf verdrehte, zögerte, als sie mich sah, ist ein Mensch. Ein Mensch, der, als ich sie hereinbat, ungewollt eintreten musste. Sie wollte diese Begegnung meiden. Scheinbar. Ich durfte sie nicht so auf den Arm nehmen.
So wurde ich wieder ernst:
„Das ist so schade, dass sie keinen einzigen Türken oder keine einzige Türkin kennen, aber so viele Vorurteile haben. Sie wundern sich, dass das „Türkenhaus“ ganz normal ist. Sie sind sicherlich ein guter Mensch. Ich würde ihnen jetzt so gerne über meinen Vater erzählen. An die vierzig Jahre hat er hier gearbeitet. Lesen sie gerne? Ich hoffe, sie mögen lesen. Ich notiere Ihnen mal ein paar Links. Googlen Sie doch mal bei Gelegenheit.“
Ich schreibe. Wenn sie liest, was ich schrieb, wird sie einiges dazulernen. Ich spürte eine seltsame Freude, eine Frau zu treffen, die vor unserem Treffen nie eine Türkin gesprochen hatte. Als wir uns verabschiedeten, lächelte sie mich sogar irgendwie freundlich an. Irgendwie lächelte sie. Irgendwie freute ich mich.
Irgendwie treffen sich die Menschen. Irgendwie. Alles passiert irgendwie.
Erst nach diesem „irgendwie“ liegt es am Menschen, die entsprechenden Situationen „irgendwie“ zu meistern.
Doch dieser Satz „Schatz, ich war noch nie in einem Türkenhaus. Sieht ja ganz normal und sauber hier aus“ hat mir zu denken gegeben.
Wie viele Menschen es da draußen unter den Leuten wohl gibt, die noch kein einziges Mal in einem „Türkenhaus“ waren?
Wie viele, die aufgrund einer einzigen schlechten Erfahrung mit dem „Fremden“ gleich alle „Fremden“ meiden würden. Wie viele?