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Gesellschaft

Schießende Grenzsoldaten, kenternde Boote, Mafia, prügelnde Polizisten und Sehnsucht nach der Heimat

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Als DTJ-Redaktion besuchten wir eine Clearingstelle, in der minderjährige Flüchtlinge betreut werden. Wir sprachen mit drei Jungen, die bei ihrer Flucht schreckliches erlebten – und Sehnsucht nach ihrer Heimat haben. (Foto: dpa)

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Flüchtlinge versuchen die Grenzen in Mazedonien zu überqueren.
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Die Geschichte des kleinen Aylan bewegt die Welt. Es musste erst solch ein Bild veröffentlicht werden, damit wir realisieren, was um uns herum geschieht. Erst, wenn uns Fakten vor die Augen gehalten werden, spüren wir, dass wir auch an diesem Leid Teil haben. Selbst, wenn es sich bei den Betroffenen nicht um Bekannte oder Freunde handelt – es sind eben Menschen, so wie du und ich…

Am Mittwoch, kurz nach dem das Bild von Aylan durch das Netz ging, wurde ich mit einem ähnlichen Schicksal konfrontiert. Der Unterschied? Diese jungen Menschen hatten überlebt und zeigten mir Fotos von ihrem Elend. Fotos, die ich eigentlich nicht sehen wollte.

Als DTJ-Redaktion machten wir uns auf den Weg in eine Clearingstelle in Berlin, in der minderjährige Flüchtlinge aufgenommen und versorgt werden. Bei unserer Ankunft wurden wir in eine ganz normale Privatwohnung hereingebeten. Es sah gar nicht nach einer Unterkunft von Flüchtlingen aus. In dieser Clearingstelle, in der 12 Jugendliche lebten, hatte jeder Einzelne das Glück, ein Zimmer für sich selbst zu haben.

Während uns die Betreuerin Tee anbot und über die äußerlichen Rahmenbedingungen der Unterkunft und die Jungen berichtete, warteten wir auf einige von ihnen, um von ihren Schicksalen zu erfahren. Als es an der Tür klingelte, kamen drei junge modern gekleidete Jungen, die uns freundlich begrüßten und einen recht zufriedenen Eindruck machten.

„Wir haben dem Tod ins Auge geschaut“

Anfangs war das Gespräch leicht angespannt. Wir stellten uns vor und fragten nach ihrem Wohlergehen. Da meine Muttersprache arabisch ist, konnten wir gut mit den Jungen kommunizieren und ich übersetze sowohl die Fragen als auch die Antworten in die jeweilige Sprache. Einer der Jungen war besonders redefreudig und aufgeweckt und antwortete als erster auf die Fragen.

Wir erfuhren, dass die drei Jungen, die alle 15 Jahre alt waren, aus Syrien geflohen waren. Sie kamen alle aus unterschiedlichen Städten und teilten fast das gleiche Schicksal. Als wir sie fragten, wie sie es nach Berlin geschafft hatten, wurden ihre fröhlichen Gesichter plötzlich ernst. Ihre Eltern hätten alles verkauft, was ihnen geblieben sei, damit sie fliehen konnten.

„Wir haben dem Tod ins Auge geschaut. An der türkischen Grenze begann man einfach auf uns loszuschießen. Als wir es geschafft hatten, ihnen zu entkommen und auf dem Weg nach Griechenland waren, mussten wir es in vollgestopften Booten an die Küste schaffen. Da das Boot drohte zu kentern, mussten wir und viele weitere Jungs mehrere Kilometer schwimmen bis wir die griechische Küste erreicht hatten. Nachdem wir das geschafft hatten, erwartete uns in Mazedonien die Mafia, die uns versuchte auszurauben. Danach liefen wir weiter bis wir in Serbien angekommen waren. Dort angekommen jubelten wir alle, weil uns gesagt wurde, dass der restliche Weg leicht sei – schließlich waren wir von Griechenland bis nach Serbien eineinhalb Monate zu Fuß gelaufen. Doch die serbische Polizei steckte uns nach unserer Ankunft in Busse und ließ uns zurück nach Mazedonien bringen. Dort warteten wir einen Tag und nahmen einen Umweg über die Berge, damit sie uns nicht erwischten. In Ungarn angekommen steckte man uns in Gefängnisse und verprügelte uns. Nicht nur einmal oder zweimal, sondern fünfzehn Mal hintereinander. Sie wollten uns unsere Fingerabdrücke abnehmen, aber wir sind den weiten Weg nicht gekommen, damit wir in Ungarn Asyl beantragen – sondern in Berlin.“

Außerdem gab man ihnen in den Gefängnissen Schweinefleisch und erzählte ihnen, dass es Halal-Fleisch sei. Nachdem sie sechs Tage mit 160 Menschen in einer Zelle verbrachten, hatten sie es geschafft herauszukommen, ohne ihre Fingerabdrücke abzugeben. Insgesamt benötigten sie von Ungarn aus zwei Tage mit dem Auto, um endlich Berlin zu erreichen. Während zwei der Jungen direkt in eine Aufnahmestelle gebracht wurden, verbrachte der dritte Junge drei Tage lang auf den Straßen Berlins, bis man ihm half in eine Aufnahmestelle zu gelangen.

„Wir wollen gar nicht hier sein!“

Wir schluckten. Zwar hört man in den Nachrichten oder den sozialen Medien täglich von derartigen Schicksalen. Doch es war etwas anderes, es persönlich erzählt zu bekommen. Die Jungen zeigten uns Bilder und Videos auf ihren Handys, um uns zu beweisen, dass sie uns nicht anlogen. Als die Betreuerin merkte, dass die Trauer und die Wut der Jungen wieder hochkamen, bat sie uns das Thema zu wechseln. Unser Chefredakteur, Süleyman Bag, sagte den Jungs, dass wir ihre Wut und ihren Schmerz verstehen können. Wir seien jedoch hergekommen, um sie in Berlin herzlich willkommen zu heißen und ihnen kleine Geschenke zu überbringen. Es sei eine neue Chance für sie in Berlin zu sein, die sie nutzen sollten, denn wenn es ihnen gut ginge, würde dies ihre Eltern ebenfalls freuen.

Doch die Jungen konnten und wollten unseren Willkommensgruß nicht annehmen. Der Junge, der als erster zu uns gesprochen hatte, wurde wütend. „Wie sollen wir denn hier sitzen und alles vergessen, wenn wir nicht wissen, wie es unserer Familie geht? Gestern habe ich nicht an die Situation gedacht und habe bei Facebook einfach so gescrollt – und sehe Bilder von meiner toten Cousine, die genauso alt ist wie ich. Wie sollen wir denn alles vergessen, wenn es uns verfolgt? Er hier [zeigt auf seinen Freund] kriegt gestern einen Anruf von Menschen aus seiner Stadt, die er nicht kennt und sie sagen ihm, dass sein Vater bei einer Explosion zwei Finger verloren hat und im Krankenhaus liegt! Ich würde sofort wieder zurück, wenn meine Familie an meiner Stelle hier sein kann. Mehr will ich nicht.“

Darauf gibt es keine Antwort und sie lassen uns auch keine Zeit zu reagieren und erzählen weiter. Nun spricht der Junge, deren Vater zwei Finger verloren hat. „Ich halte das nicht mehr aus. Ich will meine Familie. Mein Bruder und ich sind geflohen und meine Eltern haben niemanden. Mein Vater ist ein alter Mann und ihm kann keiner helfen. Und immer, wenn wir fragen, wann wir eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, um unsere Familie nachzuholen, sagen sie uns, dass das dauert. Wie lange sollen wir denn warten? Bis sie uns die Papiere geben, ist unsere ganze Familie gestorben und ganz Syrien zerstört. Warum bin ich dann hergekommen? Wenn man mir gesagt hätte, dass ich meine Familie nicht nachholen kann, wäre ich gar nicht hergekommen. Sie haben alles verkauft, was sie hatten, damit ich fliehen kann und jetzt haben sie nichts und stecken dort fest!“ Er erzählte außerdem, dass er seit seiner Ankunft bereits drei Mal einen Nervenzusammenbruch erlitten habe und sich in psychischer Betreuung befinde.

 „Entweder vom Assad-Regime oder dem IS eingezogen – oder man flieht“

Auch der dritte Junge spricht nun zu uns. Er zeigt uns ein Bild von seiner Schwester, die einen Arm bei der Explosion verlor. „Bei uns [Deir ez-Zor] ist es noch viel schlimmer als bei den Beiden. Bei uns regiert überall der IS. Entweder man wird vom Assad-Regime eingezogen, oder der IS zwingt dich, sich seiner Armee anzuschließen oder köpft dich – oder du fliehst.“ Auf dem Weg hierher habe er dreckiges Wasser aus Flüssen getrunken und verfaultes Obst aus dem Wald gegessen, um nicht zu verhungern. Er musste in kalten Gewässern schwimmen, und das, obwohl er nicht richtig schwimmen kann. Selbst das Schlafen sei ein Problem gewesen, so der Junge, denn man müsse stets auf der Hut sein vor Polizisten oder der Mafia.

Wir sagen, dass es uns leid tut, dass sie das alles erleben mussten und verstehen können, wie verärgert sie sind. Wir versuchen sie zu trösten, indem wir ihnen empfahlen sich jetzt in Geduld zu üben. „Wir können uns aber nicht mehr gedulden!“, antwortet der Junge, der als erstes gesprochen hatte. Er drückt mir sein Handy in die Hand. „Schau dir diese Bilder an!“ Man sieht Leichen ohne Köpfe, ohne Arme, verbrannte Kinder. Ich möchte ihm das Handy zurückgeben. „Nein, schau dir das bis zum Schluss an!“, sagt er etwas lauter. „Wie sollen wir hier stillsitzen und warten? Wenn wir essen, denken wir an unsere Familie, die nichts hat. Jeden Tag schauen wir uns die Videos an und hoffen darauf, dass bei den Toten keiner von unserer Familie dabei ist.“

In ihren Smartphones lebt ihre Vergangenheit und der Schmerz

Nach unserem Besuch in der Clearingstelle sind wir fassungslos. Uns fehlen die Worte. Es sind junge Menschen, denen Dinge widerfahren sind, die wir nicht einmal in unseren schlimmsten Albträumen erleben. Was viele von uns nicht verstehen, ist, dass diese Menschen gar nicht hier sein wollen. Man zwang sie zur Flucht. Es war sogar ein sozialer Abstieg für sie. Die Jungen, die aus der höheren Mittelschicht kamen, erzählten uns, dass sie nach ihrer Ankunft in Deutschland mit nur fünf Euro am Tag zurecht kommen müssten. Sie könnten sich davon weder Shampoos noch Rasierer oder Unterwäsche kaufen. Diese Jungen, die einen anderen Standard gewohnt waren, hätten sich sicherlich nicht freiwillig für dieses Leben entschieden, das sie jetzt führen: in einem Heim abhängig von Spenden – und ohne Eltern.

Nicht einmal zur Schule können sie, da ihnen die notwendigen Papiere fehlen. Sie lernen Deutsch, indem sie sich Youtube-Videos anschauen. Den ganzen Tag verbrachten sie in ihren Zimmern mit ihren Handys in der Hand, die fast zu einem Körperteil von ihnen wurden. Es war ihr einziger Kontakt zu ihren Familien. Mit ihren Videos und den Bildern lebten sie in einer anderen Realität und konnten und wollten diese nicht hinter sich lassen.

Bitte helft mit!

Dies war nicht unser letzter Besuch in der Clearingstelle. Wir wollten diese Jungen, die uns auch die nächsten Tage in unseren Gedanken begleiteten, helfen, hier anzukommen, sich wohl zu fühlen und langsam den Schmerz hinter sich zu lassen. Sie sollten wissen, dass sie hier Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatten und dass es hoffentlich auch ihren Familien gelingen würde, ihnen zu folgen.

Niemand sollte von seiner Familie getrennt werden, keine Mutter von ihrem Kind, kein Kind von seinem Vater und kein Bruder von seiner Schwester. Es gibt so viel zu tun, wobei wir alle anpacken können. Bitte helft mit und werdet aktiv. Wenn jeder von uns einen kleinen Schritt macht, führt das zu einem großen gemeinsamen Schritt. Unser erster Schritt war es, diese Jungen zu besuchen, ihnen zuzuhören und ihnen zu sagen, dass es Hoffnung gibt.