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Politik

„Schlimmer als 1994“

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Erdoğan wurde 1994 zum OB von Istanbul gewählt, weil die etablierten Parteien in einem Korruptionsaffären verwickelt waren. Von dem damaligen Versprechen Erdoğans, keine Korruption zuzulassen, sind viele Wähler enttäuscht. (Foto: reuters)

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Erdoğan wurde 1994 zum OB von Istanbul gewählt. Von dem damaligen Versprechen Erdoğans, keine Korruption zuzulassen, sind viele Wähler enttäuscht.
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Dieses Land hat viel Krawall, Machtkämpfe, Kriege und Unruhen erlebt. Selbstverständlich wird auch diese Spannung vergehen. Ein Schwamm presst das eingezogene Wasser wieder aus, wir sollten nur darauf achten, wie viel Überbleibsel übrig geblieben ist. Säubern wir nicht den Bodensatz, verkarstet der Schwamm.

In der Spannung zwischen der Regierung und der Hizmet-Bewegung haben wir eine unserer inneren Schwächen wahrgenommen: Wir wussten nicht mal, dass wir einer moralischen Erosion unterliegen. Es ist offensichtlich, dass Korruption und Schmiergeld vorliegt: Kassen, Millionen von Dollars, Euros, teure Armbanduhren im Wert von siebenhunderttausend Euro, zum Rücktritt gezwungene Minister, im Internet veröffentlichte Tonaufnahmen etc.

Die einen glauben, dass all dies vollständig Lügen, gefälschte Beweise und grundlose Vorwürfe sind. Die Zahl dieser Menschen ist gering. Die anderen fragen: „Ok, aber warum jetzt?“. Die letzteren sind der Überzeugung: „Jeder stiehlt, wenigstens leisten diese Leute Arbeit.“

Die in der zweiten Gruppe erkennen, dass es Korruption und Schmiergelder gibt. Außerhalb einer kleinen Gruppe ist sich eigentlich jeder dessen bewusst. Sie wenden jedoch ein: „Jeder stielt doch, gab es je eine Regierung, die dies nicht tat?“.

Hauptsache man tut was!

Dass die Einwände hauptsächlich vom „religiös-konservativen“ Milieu kommen, zeigt, wie tief die Verrottung des Gefüges ist. Das Problem sitzt wirklich tief fest. Stellen Sie sich vor, ein Muslim sagt: „Ok, es gibt Korruption, nur wieso wird es jetzt, so kurz vor den Wahlen, enträtselt / enthüllt? Da steckt eine Absicht hinter!“ Es stimmt, dass wir vor einer Wahl stehen, aber nicht vor einer, sondern vor drei Wahlen. Die Kommunalwahlen am 30. März, die Präsidentschaftswahlen im August und die Parlamentswahlen im Juni nächsten Jahres. Nach diesem Einwand müssten die Staatsanwälte erst zwei Jahre warten, ansonsten würden die Korruptionsenthüllungen die Partei beschädigen.

Tragisch ist, die Einwendenden diejenigen, die bis zur Nase in Korruption und Schmiergeldern stecken, nicht hinterfragen. Nach meinem Standpunkt sollte die Haltung eines gläubigen Muslim folgendermaßen: Sofort und jetzt sollten Ermittlungen durchgeführt werden. Die Einwendung „Jeder stiehlt, was ist schon dabei“ ist überhaupt die größte Katastrophe. Dies bedeutet implizit, dass „wir, oder Leute von uns“ stehlen dürfen. Hauptsache man tut was!

Wählt der Wähler trotz der Korruptionsermittlungen noch immer die gleiche Partei, zeigt dies zumindest, dass allein das Wählen eine Straftat nicht legitim macht. Wenn 99 % der Bevölkerung den Korrupten wählt, legitimiert dies nicht die Korruption. Die demokratische Prozedur wäscht den Schuldigen nicht weiß. Die demokratische Unterstützung der Korruption oder der Korrupten zeigt, in welcher tiefen moralischen Schwäche sich die Bevölkerung befindet.

„Jeder stiehlt, wenigstens arbeiten diese Leute“

Burhan Kuzu zählt auf diese Schwäche und sagt: „Auch wenn diese Tonaufnahmen stimmen, wird ihnen keiner Glauben schenken“. Dies legt dar das Fäulnis, in dem wir uns befinden, explizit und ausdrücklich dar. Verleitet allein die Existenz einer politischen Verschwörung – nehmen wir an, es gebe sie – die Schuld zu einer Ausflucht und rechtfertigt dies, dass wir in den Reihen der Verbrecher Platz nehmen?

Im März 1994 war ich in İskenderpaşa bei einem Friseurladen. Jemand kam rein und rief in einem zornigen, empörten Ton: „Dieses Mal werde ich die Refah Partei wählen.“ Als der Friseur fragte: „Was ist los? Refah ist nichts für dich“, erwiderte er: „Hör mal, diese CHP arbeitet nicht und stiehlt. ANAP arbeitet, stiehlt aber. Die Refah Partei ist anständig und rechtschaffen und arbeitet auch.“ Eins der fünf politischen Versprechen der RP war „moralischer Anstand und die Bereinigung der Öffentlichkeit vom Schmutz.“ Wir sind im Jahre 2014! Und die Konservativen sagen: „Auch wenn die Aufnahmen stimmen, werden die Menschen denen nicht glauben. Jeder stiehlt, wenigstens arbeiten diese Leute.“

Sie werden sagen, wir sind zwanzig Jahre zurückgekehrt. Nein! Die Situation unterscheidet sich von der vor 20 Jahren. Heute wird gesagt, dass der Religiöse, der eigentlich die Pflicht hat, zuverlässig, verlässlich und rechtschaffen zu sein, im Schmutz steckt. Wenn der Religiöse solche Amtsvergehen tolerieren kann, so ist dieses die größte Katastrophe, das größte Elend.

Autoreninfo: Der türkische Soziologe und Intellektuelle Ali Bulaç begleitet Erdoğans Politik seit über zwei Jahrzenten.