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Kolumnen

Selbstjustiz ist Barbarei

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Über das Scheitern des Putsches vom vergangenen Freitag freuen sich fast alle Türken im In- und Ausland. Die im türkischen Parlament vertretenen politischen Parteien, von der rechtsnationalistischen MHP bis zur linken, pro-kurdischen HDP, haben gemeinsam Position gegen die Putschisten und für die Demokratie bezogen. Ein wichtiger Grund für das Scheitern der Putschisten ist auch die Tatsache, dass die Armeeführung das feige Spiel nicht mitgespielt hat. Der türkische Ministerpräsident erklärte, dass bei dem Kampf gegen die Putschisten insgesamt 208 Menschen, davon 145 Zivilisten, gefallen sind. Es gibt knapp 1500 Verletzte: „Ohne Zweifel ist der Aufstand gescheitert, weil unsere Nation den Willen gezeigt hat, sich ihrer Zukunft anzunehmen.“ Nach dem gescheiterten Putsch wurden bis zu 15 000 Polizisten und Soldaten, aber auch Richter, Staatsanwälte und Beamte suspendiert oder verhaftet. Unter den Verhafteten befinden sich auch 650 Zivilisten. Erdoğan nutzt die Gunst der Stunde, um eine offensichtlich von langer Hand geplante „Säuberungsaktion“ durchzuführen.

Der Ministerpräsident lobte in seiner Rede nach der ersten Kabinettssitzung am Montag den “Oberkommandierenden Erdoğan”, bedankte sich zudem bei den Oppositionsparteien, den Medien und sagte über die Initiatoren des fehlgeschlagenen Staatsstreiches: „Das sind Terroristen, die sich als Soldaten verkleidet haben.“ Wer hinter dem Putsch steht und wer die „als Soldaten verkleideten Terroristen“ sind, hat der Oberkommandant sofort nach dem sehr amateurhaften Umsturzversuch ausgemacht: Die parallele Staatsstruktur. Damit ist die Hizmet-Bewegung um den muslimischen Prediger Fethullah Gülen gemeint. Gülen weist die Vorwürfe mit aller Entschiedenheit zurück, was aber in der türkischen Öffentlichkeit kaum ankommt. Für Erdoğan ist es ein leichtes Spiel, Gülen zu verurteilen. Dafür braucht er weder Gerichte noch Eingeständnisse oder Beweise.

Wenn er als Oberkommandant sagt, Fethullah Gülen und die Hizmet-Bewegung wären für den Putschversuch verantwortlich, da es sich bei ihnen sowieso um Terroristen handele, dann kann das nur stimmen. Den Rest übernimmt seine Propagandamaschine, die regierungstreuen sogenannten Pool-Medien. Die Folge ist, dass Millionen von Türken daran glauben und sich als willige Soldaten des zivilen Generals verhalten. Gülen und seine Unterstützer sind für sie ohne Wenn und Aber Staatsverräter. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich bei den Hizmet-Anhängern um Menschen aus dem nächsten eigenen Umfeld handelt. Der Riss geht durch Familien und Freundschaften.

Die Anhänger der Hizmet-Bewegung werden von Erdoğans Gefolgschaft nicht nur ausgegrenzt und diskriminiert. Sie geht auf die Straßen, greift Einrichtungen der Bewegung an und übt dabei Selbstjustiz. Und das nicht nur in der Türkei. In Frankreich, in den USA und vor allem in Deutschland, wo über drei Millionen Türken leben, wird in den sozialen Medien zu Boykott von Firmen aufgerufen, welche die Bildungsarbeit der Bewegung unterstützen. Schulen, Buchläden und Nachhilfeeinrichtungen werden angegriffen und in Brand gesetzt. Lügen werden verbreitet. Noch am vergangenen Sonntag hat UETD-Vorstand Fatih Zingal in der Sendung Anne Will unverhohlen die Unwahrheit in die Mikrofone gesprochen, die Hizmet-Bewegung werde vom baden-württembergischen Landesverfassungsschutz beobachtet und sei antisemitisch.

Lügen, Denunziation und Selbstjustiz haben weder im Islam noch in einem Rechtsstaat einen Platz. Agitatoren und Lobbyisten, die im Namen der Religion und der Nation sich dieser Stasi-Methoden bedienen, ist entschieden entgegenzutreten. Aber wer soll das in einer Gesellschaft, in der die Zahl derjenigen, die an Fakten und an der Wahrheit(sfindung) interessiert sind, zunehmend abnimmt, tun?