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Gesellschaft

Selbstkritik nach München und Nizza: „Medien müssten die Langsamkeit wiederentdecken“

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Weniger Aktionismus und weniger Sondersendungen über Terroranschläge und Amokläufe – das empfiehlt der Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbandes, Frank Überall, den Medien. Durch die vielen Livesendungen während des Münchner Amoklaufs hätten die Zuschauer die Arbeit der Medien ungefiltert miterlebt. Dadurch seien auch Gerüchte, Spekulationen und Falschmeldungen verbreitet worden, sagte Überall am Montag im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Berlin. „Für die Prüfung von Informationen, das Abwägen unterschiedlicher Informationen und Meinungen fehlt in dieser Live-Berichterstattung die Zeit.“

Herr Überall, der Philosoph Peter Sloterdijk wirft den Medien vor, durch ihre Berichterstattung über Anschläge den Tätern in die Karten zu spielen. Stimmen Sie dem zu, wenn Sie die Berichterstattung dieses Wochenendes über München bewerten?

Das ist ein uraltes Spannungsfeld. Schon bei den Anschlägen der RAF in den 70er Jahren mussten die Medien abwägen: Einerseits gab es ein Informationsrecht der Öffentlichkeit. Andererseits wollten die Terroristen möglichst große Aufmerksamkeit für ihre Ziele herstellen. Heute gehört es zum Grundkonzept des islamistischen Terrors, aber auch von Einzeltätern, möglichst viel Angst zu schüren und maximale Aufmerksamkeit zu erzielen. Das ist eine schwierige Gratwanderung. Die Medien dürfen durch ihre Berichterstattung nicht dazu beitragen, ein Klima der Angst zu erzeugen, das unsere Art zu leben zerstören würde.

Aber ist das gelungen an diesem Wochenende?

Das war sehr unterschiedlich. Manche Medien haben ungeprüfte Berichte und Spekulationen verbreitet. Bei den Ereignissen in München waren ja alle möglichen Tatmotive denkbar: Es konnte sich um rechtsradikale oder islamistische Täter handeln, lange war von drei Attentätern die Rede, dann gab es Gerüchte über Schießereien in der Innenstadt. Es dauerte lange, bis sich ein seriöses Bild ergab.

Die sozialen Medien haben vieles zugeliefert…

Sie als soziale Medien zu bezeichnen, fällt mir ziemlich schwer. Da gibt es zu viele Wichtigtuer und unverantwortlich Handelnde. Es handelt sich eher um digital verlängerte Stammtische. Wir dürfen uns nicht von den sozialen Netzwerken, ihren Videos, vermeintlichen Augenzeugenberichten und schnellen Meinungsäußerungen treiben lassen. Das wäre Gift für die Öffentlichkeit.

Auch in den öffentlich-rechtlichen Medien wurde viel spekuliert…

Spekulationen, harte Nachfragen, das Ausloten unterschiedlicher Möglichkeiten – das alles gehört zum Kerngeschäft der Journalisten. Das Problem ist, dass dies alles mittlerweile ungefiltert in die Wohnzimmer dringt und dort Unruhe auslöst. Durch die Dauersendungen schauen die Zuschauer in den Maschinenraum der Medien und sehen dort live vieles, was sie nicht einordnen können oder was nicht sehr angenehm ist. Der redaktionelle Filter ist ausgeschaltet: Für die Prüfung von Informationen, das Abwägen unterschiedlicher Informationen und Meinungen fehlt in dieser Live-Berichterstattung die Zeit. Auch Politiker werden dann massiv unter Druck gesetzt, müssen so tun, als hätten sie Lösungen.

Also wäre weniger Medienberichterstattung eine Lösung?

Die Medien müssten die Langsamkeit wiederentdecken. Natürlich ist ein solches Ereignis, das eine der größten deutschen Städte lahmlegt, ein Riesenthema der Berichterstattung. Die Einwohner haben ein Recht zu erfahren, warum die U-Bahnen nicht mehr fahren und dass sich möglicherweise Attentäter in der Stadt aufhalten. Aber andererseits haben fast alle Sender, von ARD und ZDF über die dritten Programme bis zu RTL, auf Dauerberichterstattung umgestellt. Diese Sendezeit muss man erst mal füllen…

Was müsste man konkret anders machen?

Natürlich muss man schnell gesicherte Informationen liefern. Aber muss man sofort laufende Sendungen unterbrechen und Sondersendungen fahren? Das ist Aktionismus. Man könnte beispielsweise über Laufbänder wichtige Nachrichten transportieren und ansonsten den Medien Zeit geben, zu recherchieren und qualifizierte Informationen einzuholen. Erst wenn der Informationsstand trägt, könnten Sondersendungen starten. Auch muss nicht jeder Sender so stark in die Berichterstattung einsteigen. Gäbe es beispielsweise einen öffentlich-rechtlichen Nachrichtensender, könnten die anderen Programme auf diesen riesigen Aufwand verzichten.