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Menschenrechte

Selbstmord in der Moschee: Türkischer Soldat erhängt sich

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Halis Tunç, ehemaliger Oberst und Marine-Attaché der Türkei in Griechenland, hat sich in einem Beitrag über den Selbstmord eines Soldaten in einer Moschee in Istanbul geäußert. Seine Analyse lässt tief blicken in ein schreckliches Drama.

In den vergangenen Tagen zog eine besonders dramatische Nachricht in der Türkei große Aufmerksamkeit auf sich. Als am 27. Januar in den sozialen Medien erstmals Berichte über den Selbstmord eines Soldaten in einer Moschee in Umlauf kamen, diskutierten Tausende über die möglichen Hintergründe. Nun ist mehr über den Fall bekannt. Die Öffentlichkeit weiß heute, dass es sich bei dem jungen Berufssoldaten um einen per Dekret vom Dienst suspendierten und für fünf Monate inhaftierten Mann handelt. Sein Name ist Adem Gürbüz.

Soldat ist ein Opfer der Dekrete

Somit gehört der Leutnant zu der Gruppe der sogenannten „KHK’ler“ (lesen Sie hier mehr darüber). Eine Bezeichnung für diejenigen, die nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 im Zuge des Ausnahmezustands per Notstandsdekrete vom Staatsdienst suspendiert wurden. Diese „KHK’ler“ sind aufgrund dieses Brandings schweren Diskriminierungen und sozialer Isolation ausgesetzt. Abertausende von ihnen wurden pauschal damit beschuldigt, als Mitglieder einer bewaffneten Terrororganisation am Putschversuch beteiligt gewesen zu sein. Sie wurden ohne Anklageschrift verhaftet und zum Teil ohne belastbare Belege durch Sondergerichte zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Soldat Gürbüz zunächst Putschist, dann ein Held

Auch Adem Gürbüz hat ähnliches erlebt. Dabei war der Soldat eine echte Rarität und mit seinen Fachkenntnissen bedeutend für jeden Staat. Denn der Leutnant war ausgebildeter und fest eingestellter Panzerfahrer im türkischen Militär „TSK“. Doch wie viele andere auch ist Gürbüz als vermeintlicher Putschist im Gefängnis gelandet.

Als das türkische Militär fünf Monate nach seiner Inhaftierung eine Operation in Syrien durchführt, wird er so unerwartet wie seine Verhaftung aus dem Gefängnis entlassen. Als Spezialist für Militärpanzer wird Gürbüz sofort für den Einmarsch des türkischen Militärs in Syrien eingeplant. Schwer nachzuvollziehen, wenn man bedenkt, dass der türkische Staat einem verurteilten „Terroristen“ nicht nur schwere Waffen und einen Panzer anvertraut, sondern ihn zu einem wichtigen Bestandteil einer so sensiblen und die Staatssicherheit direkt betreffenden Operation im Ausland macht. Dass auch seine Ausreisesperre aufgehoben wurde ist in diesem Zusammenhang fast schon eine Selbstverständlichkeit.

Am Ende der Operation wieder Putschist

Gürbüz hat den Syrien-Einmarsch überlebt. Als er wieder in der Heimat ist, nimmt sein Albtraum aber erst so richtig an Fahrt auf. Denn nach der Operation wurde er endgültig aus dem Militär rausgeworfen. Mit einer Software, die als „FETÖMETER“ bezeichnet werde, habe man festgestellt, dass Gürbüz doch ein Gülenist sei, schreibt Oberst Halis Tunç in seinem Bericht.

Der Rauswurf war für Gürbüz gleichzeitig der Beginn der totalen sozialen Isolation. Notgedrungen ging der junge Soldat in seine Heimat nach Erzurum und zog sich in die Obhut seiner Familie zurück. Erzurum liegt im Osten der Türkei, rund 900 km entfernt von der türkischen Hauptstadt Ankara. Als Gebrandmarkter in einer erzkonservativen Region hatte der junge Soldat dort keine Chance auf Unterstützung, so Tunç in seinem Artikel. Besonders schmerzlich müsse gewesen sein, dass selbst seine Verwandtschaft sich von ihm abgewandt habe. Tunç zitiert den verzweifelten Gürbüz, der gesagt habe: „Wenn es nicht schamhaft wäre, würde ich mich ausziehen und euch die Spuren von Folter an meinem Körper zeigen, die sie mir im Gefängnis zugeführt haben.“

Von Erzurum nach Istanbul

Oberst Halis Tunç geht auch auf den notgedrungenen Gang des gebrochenen Soldaten nach Istanbul ein. Da in Erzurum ihn niemand habe einstellen wollen, habe er diesen Weg wählen müssen, um irgendwie Geld zu verdienen. Wie bei Zehntausenden anderen „KHK’lern“ ist nämlich neben der Sozialversicherungsnummer von Gürbüz eine Kennziffer vermerkt. Damit können Arbeitgeber und Behörden erkennen, dass eine Person per Dekret entlassen wurde. Für viele Menschen, die ein ähnliches Schicksal erleiden, ist diese Kennziffer ein Symbol der Ausweglosigkeit.

Tod in der Moschee

Auch in Istanbul läuft es für den Soldaten nicht rund. Die Arbeit auf der Baustelle ist hart und schlecht bezahlt. Als Panzerfahrer hätte Gürbüz normalerweise eine steile Karriere im Militär vor sich gehabt. Geldprobleme wären für einen Spezialisten wie ihn vermutlich ein Fremdwort gewesen. Doch nun stand er da, allein gelassen von der Familie, fallen gelassen vom Staat.

Tunç berichtet in seinem Beitrag von einem letzten Schlüsselmoment. In einer finanziellen Notlage habe Gürbüz seinem Bruder in der Heimat eine SMS geschrieben. „Bruder, kannst du mir vielleicht 150 Lira senden? Wenn es nicht klappt, ist schon ok“. Kurze Zeit danach ging Gürbüz in Istanbul-Dudullu wohl für das letzte Gebet des Tages in eine Moschee. Er muss sich versteckt und den letzten Besucher abgewartet haben. Als die Moschee schließlich leer und abgeschlossen war, nahm er sich das Leben. Ein symbolischer Abgang eines gebrochenen Mannes, dessen Leben hätte anders verlaufen können.

Kritik vom Ex-AKP-Abgeordneten Yeneroğlu

Der ehemalige AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroğlu, der sich in den letzten Wochen zum Chefkritiker seiner ehemaligen Partei entwickelt, hat via Twitter auf die Nachrichten über den Tod von Adem Gürbüz reagiert. Vor seinem Austritt aus der AKP hatte Yeneroğlu begonnen, die fehlende Rechtsstaatlichkeit in der Türkei offen zu kritisieren. Zum Tod von Gürbüz schrieb er: „Ich glaube der schlimmste Grund für einen Selbstmord ist der Verlust von Hoffnung auf Gerechtigkeit und Zukunft. Wir dürfen nicht schweigen. Jedes Leben, das so von uns geht, lastet auf unseren Schultern“.

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Die Berichterstattung über Selbsttötung(en) gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände. DTJ-Online berichtet nur in Ausnahmefällen über Suizide, z.B. dann, wenn eine gesellschaftliche Relevanz gegeben ist.

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