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Gesellschaft

Juden in der Türkei: Wenn aus Vertreibung Heimat wird

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Die interreligiöse Ausstellung über das sephardische Judentum in der Türkei wird nach ihrem Erfolg in Stuttgart auch in anderen deutschen Städten zu sehen sein. Süddialog-Vorsitzender Dağdelen sprach darüber mit DTJ.*

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Juden in der Türkei: Wenn aus Vertreibung Heimat wird
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Im November 2012 veranstaltete der Süddialog e.V. im Rahmen der Jüdischen Kulturwochen Stuttgart in Zusammenarbeit mit der Stiftung Stuttgarter Lehrhaus und dem Jüdischen Museum Istanbul erstmals die Ausstellung „Im Schatten der Feigenbäume und Weinreben – 500 Jahre Sephardisches Judentum am Bosporus“. Nun ist die Schau als Wanderausstellung auf dem Weg durch mehrere deutsche Städte.

Die Ausstellung gibt Einblicke in die Zustände der Flucht der sephardischen Juden aus dem Spanien des 15. Jahrhunderts, beschreibt die Bedingungen ihrer Einreise in das damalige Istanbul und dokumentiert Facetten des zivilgesellschaftlichen Lebens der sephardischen Juden in der Bosporusmetropole bis in die heutige Zeit.

Hasan Dağdelen, der erste Vorsitzender des Vereins Süddialog e.V., stand dem DTJ für ein Interview über die Exposition zur Verfügung.

Herr Dağdelen, erzählen Sie uns etwas über die Ausstellung. Wie sind Sie auf diesen Titel gekommen?

Die Ausstellung „Im Schatten der Feigenbäume und Weinreben – 500 Jahre Sephardisches Judentum am Bosporus“ bezeugt in einzigartiger Weise das Leben der sephardischen Juden vom Osmanischen Reich des 15. Jahrhunderts bis in die Türkei der Gegenwart.

Sie gewährt besonders bemerkenswerte Einblicke in das Zusammenleben von Juden und Muslimen, denn sie offenbart Aspekte und Facetten dieses Zusammenlebens, die im Rahmen tagesaktueller medialer Berichterstattung häufig vernachlässigt werden. Zum Beispiel Aspekte der Hoffnung, der Toleranz und der Solidarität. Die als photographische Reise konzipierte Wanderausstellung kündet zudem auch von der beeindruckenden kulturellen Leistung der sephardischen Juden. Diese sind seit 500 Jahren fester Bestandteil der Zivilgesellschaft Istanbuls, ohne dabei ihre kulturelle oder religiöse Identität zu opfern.

Zum Titel hat uns Sultan Mehmed II. inspiriert. Er richtete sich kurz nach der Eroberung Istanbuls im Jahre 1453 an die jüdischen Gemeinden Anatoliens und lud sie ein, sich in der Hauptstadt anzusiedeln: „Gott hat mich mit vielen Ländern gesegnet und mich aufgefordert, mich um die Dynastie seiner Diener Abraham und Jakob zu kümmern… Wer unter euch, mit der Erlaubnis Gottes, würde sich gern in Istanbul niederlassen und friedlich im Schatten von Feigen und Weinbergen wohnen, freien Handel ausüben und Eigentum besitzen?“

Wir dachten uns, dass dies einen besonders markanten Wendepunkt in der Geschichte der jüdischen Bevölkerung Anatoliens beschrieb und damit auch einen geeigneten Titel für unsere Ausstellung abgeben könnte.

Worum geht es in der Ausstellung?

Diese fotografisch präsentierte Ausstellung erzählt die beeindruckende Geschichte der sephardischen Juden am Bosporus seit ihrer Vertreibung aus Spanien 1492 bis heute. Ihre Geschichte zeigt, wie Juden und Muslime friedlich zusammenleben und voneinander profitieren. Sie zeigt, wie aus Vertreibung Heimat wird und wie sehr das beherzte Eingreifen weniger die Geschichte verändern kann. Im Original befindet sich die komplette Ausstellung in Istanbul im Quincentennial Foundation Museum of Turkish Jews.

Der Süddialog e.V. brachte diese Ausstellung in Kooperation mit dem Stuttgarter Lehrhaus als Wanderausstellung nach Deutschland, damit auch hier dieses Zeichen für friedliches Miteinander gesehen werden kann. Wir freuen uns auch, dass durch uns und unsere Kooperationspartner Juden, Christen und Muslime gleichermaßen in der Organisationsstruktur vertreten sind und wir die Ausstellung gemeinsam präsentieren können.

Wie kam diese Ausstellung hierher? Was ist ihre Geschichte?

Es wird sie kaum verwundern: Der Hintergrund ist ein interkulturell-interreligiöser. Wie könnte es anders sein?!

Zusammen mit Prof. Urs Baumann hatte ich ziemlich genau im November vor zwei Jahren das heute einzige Jüdische Museum der Türkei besucht. Sie finden es am Karaköy-Platz, in der ehemaligen Zülfaris-Synagoge. Auf den ersten Blick ist es ein unscheinbares Gebäude mit rotem Anstrich. Der Besuch aber beeindruckte uns zutiefst.

Und wir entschlossen uns dazu, unser diesbezüglichen Wissen zu vertiefen. Die jüdische Bevölkerung der Türkei wird heute auf ca. 20.000 Menschen geschätzt. Der Großteil dieser jüdischen Türken, ca. 18.000, lebt in Istanbul. Damit leben fast alle Juden der Türkei in Istanbul. Die Polis am Bosporus umfasst derzeit 21 Synagogen und der Großteil dieser Juden ist mit ca. 96% sephardisch.

Wir hatten uns gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass fast alle Juden der Türkei in Istanbul leben. Und dabei stießen wir auf den osmanischen Herrscher Sultan Bayezid II., der den Juden Spaniens zu Zeiten der Reconquista einen Platz in der osmanischen Gesellschaft Istanbuls per Dekret erwirkt hatte und sie – nicht zuletzt mithilfe drakonischer Gesetze – vor Übergriffen aus der Gesellschaft schützte.

Dieses Dekret ermöglichte den Juden letztendlich nicht nur eine ungestörte Einreise in die Bosporusmetropole, sondern betonte und festigte auch die Bedingungen für ein friedliches Nebeneinander von Juden und Muslimen zu einer Zeit, als Juden im übrigen Europa überall von Mord, Verfolgung und Raub bedroht waren.

Die spanischen Juden kamen. Aber nicht nur diese. Die Atmosphäre gelebter Toleranz und Solidarität motivierte auch Juden aus dem übrigen Europa, wie beispielsweise aus Deutschland, nach Istanbul überzusiedeln. Das alles geschah im 15. Jahrhundert.

Die multireligiöse Stadt Istanbul wurde schließlich für viele dieser Juden und für ihre Nachkommen zu einer neuen Heimat. Wie weit diese Bindung ging, wird sehr eindrucksvoll in der Sakralkunst der sephardischen Juden zum Ausdruck gebracht, in die diese ihre muslimische Umwelt stilistisch integrierten.

Dort wird heute scheinbar Fremdes als Vertrautes gezeigt: Beispielsweise Chanukka-Leuchter in Form eines Minaretts, oder Rimonim – das sind verzierte Aufsetzer für die Thorarolle – mit Halbmondverzierungen.

Das sind jedoch nur zwei der vielen Beispiele jenes friedlichen Nebeneinanders, das diese Ausstellung dokumentiert. Dieses besondere, im religiösen und im gesellschaftlichen Leben manifestierte, friedliche Mit- und Nebeneinander innerhalb der Zivilgesellschaft wollten Herr Prof. Baumann und ich auch anderen zeigen: Dass man im Herzen des eigenen Glaubens noch Platz für den anderen findet und ihm dort Anerkennung zollen kann, wo es einem selbst am wichtigsten ist.

Wir besprachen unser Vorhaben nach unserer Rückkehr auch mit Meinhard Tenné, dem ehemaligen Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden-Württembergs. Herr Tenné fand schnell an der Idee Gefallen und sagte uns die Unterstützung der Stiftung Stuttgarter Lehrhaus zu.

Prof. Baumann, Herr Tenné und ich waren der Überzeugung, eine Ausstellung über das sephardische Judentum am Bosporus sei eine einzigartige Gelegenheit, diesen Gedanken nicht nur zu transportieren, sondern mit einer positiven Perspektive zu versehen.

Wie ist die Situation heute und beschönigt die Ausstellung nicht auch die Geschichte der sephardischen Juden in der Türkei? War das Zusammenleben nur durchwegs positiv?

Wie bereits erwähnt leben mittlerweile nur noch ca. 20.000 Juden in der Türkei. Vor diesem Hintergrund ist es müßig, zu verschweigen, dass es auch im Zusammenleben von Juden und Muslimen in der Türkei überaus dunkle bis tiefschwarze Kapitel gab und immer noch gibt.

N. Avigdor Güleryüz, der Direktor des Jüdischen Museums, sagte mir dazu folgendes: „Ähnlich wie auch in jeder anderen Beziehung gibt es auch in der unsrigen manchmal sonnige und manchmal regnerische Tage. So ist nun mal leider der Lauf der Dinge. Für uns zählt jedoch, dass die sonnige Zeit überwiegt. Wir fühlen uns hier in der Türkei sehr wohl. Wir sehen uns selbst nämlich mittlerweile als Türken und sind ein Teil dieser Gesellschaft.“

Wir wollten daher die Geschichte der sephardischen Juden möglichst unverfälscht so darstellen, so wie dies auch das Museum in Istanbul tut. Mir persönlich ist bewusst, dass es auch kritische Phasen gab, diese sind aber nicht Gegenstand der Ausstellung, da wir den sephardischen Juden die Gelegenheit geben wollten, ihre Geschichte selbst zu erzählen.

Die Ausstellung möchte darum mit ihrem Schwerpunkt auf den positiven Momenten im Zusammenleben zwischen Juden und Muslimen die Zivilgesellschaft dahingehend motivieren, dazu beizutragen, dass sich diese dunklen Kapitel weder wiederholen, noch jemals neue hinzukommen.

Welche Botschaft wollen Sie geben und welche Vorstellung haben Sie von Juden, Christen, Muslimen und Menschen anderer Wertvorstellungen hier in Deutschland?

Die Zukunft vieler Menschen jeglicher Glaubensüberzeugungen – auch die von Juden und Muslimen, von denen viele als Einwanderer gekommen waren – entfaltet sich für uns heute in Deutschland. Wir sind hier und jetzt im Zentrum ihrer Gestaltung und liegen gemeinsam auch in der Verantwortung dafür, dass diese gelingt. Um es ganz deutlich zu betonen: Weinreben und Feigenbäume wurzeln nicht nur in einem Grund, sondern auch hier erneut in einem anderen Boden.

Hier in Deutschland ermöglicht, stützt und fördert unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung ein anderes, neues friedliches Nebeneinander gelebter Solidarität.
Dieses können und müssen wir nach unseren Maßstäben im Rahmen der Zivilgesellschaft selbst gestalten.

Diese Ausstellung soll, so unser gemeinsamer Wunsch, ein hoffnungsvolles Zeugnis über die auch in Gegenwart und Zukunft mögliche friedliche Koexistenz von Judentum und Islam, von Juden und Muslimen ablegen.

In ihrer lokalen Entstehungsgeschichte ist sie bereits zum Symbol für den modernen interreligiösen Dialog geworden. Dieser steht längst nicht mehr nur für eine Kultur der Toleranz, sondern für eine Kultur intensiver Zusammenarbeit auf Augenhöhe, auch und vor allem hier in Deutschland. Diese Zusammenarbeit ermöglichte nicht zuletzt, dass Muslime zum ersten Mal zu einem Akteur innerhalb der jüdischen Kulturwochen in Stuttgart werden durften.

Dass von muslimischer Seite die Initiative zu so einem Projekt kommt, ist sehr ungewöhnlich. Wie stehen Sie als Muslim zum interreligiösen Dialog?

Ich kann Ihnen gerne berichten, wie in meiner persönlichen muslimischen Glaubenswelt die Motivation zu dieser Geschichte entstanden ist.

Beim interreligiösen Dialog ist selbstverständlich vor allem die Tradition des Propheten für mich sehr wichtig. Hierzu gibt es viele Beispiele in der Prophetenbiografie. Wie zum Beispiel die Erlaubnis für die Christen von Nadjran, ihre Gottesdienste in der Moschee von Medina abhalten zu dürfen.

Bei mir spielt aber auch das geistige Erbe Fethullah Gülens eine große Rolle. Er hat ja in den 90er-Jahren den interreligiösen Dialog in der Türkei vorangebracht. Damals galt es als ein gesellschaftliches Tabu, in der Türkei mit anderen religiösen Gruppen überhaupt in Kontakt zu treten.

Als einer der ersten muslimischen Gelehrten suchte er jedoch gezielt den Dialog mit diesen, unter anderem auch mit dem griechisch-orthodoxe Patriarchen Bartholomäus, dem Patriarchen der armenischen Gemeinde und auch dem obersten Rabbiner der jüdischen Gemeinde, Ishak Haleva. Mich fasziniert vor allem, dass er nicht nur von Dialog redet, sondern ihn auch selber lebt.

*Das Foto hat uns die The Quincentennial Foundation Museum of Turkish Jews zur Verfügung gestellt. Es zeigt Hochzeitsbilder sephardisch-osmanischer Ehepaare aus dem 19. und 20. Jahrhundert.