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Gesellschaft

„Sie hat ‚Ich liebe dich‘ gesagt, also musste ich sie vergewaltigen“

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Erneut schockiert eine bestialische Vergewaltigung viele Türken. An der grassierenden Gewalt gegen Frauen wird auch diese Empörung nichts ändern. Die Entwicklung der letzten Jahre macht wenig Grund zur Hoffnung.

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Vergewaltıgungsopfer
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In der Türkei schockiert ein erneutes Gewaltverbrechen gegen eine Frau Teile der Öffentlichkeit, das viele an die schreckliche Ermordung der Studentin Özgecan Aslan vor zwei Jahren erinnert. In Ankara wurde eine 37-jährige Mutter zweier Kinder in einem Bus der städtischen Nahverkehrsgesellschaft brutal vergewaltigt – vom Busfahrer selbst.

Vor einer Woche musste die Englischlehrerin im Stadtteil Etimesgut am westlichen Stadtrand von Ankara bis in die Nacht hinein an der Privatschule, an der sie unterrichtet, arbeiten. Wegen der bitteren Kälte von minus elf Grad stieg sie vor einem Einkaufszentrum in einen Stadtbus der Linie 530 und fragte Busfahrer Ibrahim T., ob er sie 200 Meter weiter an einer Straßenkreuzung absetzen könne. Dort angekommen bat sie den Fahrer, aussteigen zu können, doch er vertröstete sie damit, dass er sie auf dem Rückweg absetzen werde.

Daraufhin sei er in eine Seitenstraße gefahren und habe den Bus auf einem leeren Feld angehalten. Der Aussage der Frau zufolge kam der Busfahrer danach auf sie zu, zerrte sie vom Sitz in den Mittelgang des Busses und würgte sie mit beiden Händen, bis sie das Bewusstsein verlor.

Was dann geschah, beschrieb die Lehrerin der Staatsanwaltschaft mit erschütternden Worten: „Als ich wieder zu mir kam, sah ich ihn über mich gebeugt. Während er mich weiter würgte, sagte er ‚Benimm dich oder ich würge dich, bis du tot bist!‘ Dabei hat er mich weiter vergewaltigt.“ Sie habe ihn gefragt, warum er das tue, ob er denn keine Familie oder Schwestern habe, doch er habe darauf nicht geantwortet. „Als er fertig war, fragte er mich, ob ich verheiratet sei und Kinder habe. Dann wollte er noch meine Telefonnummer haben und fragte, wann wir uns denn das nächste mal sehen können. Natürlich habe ich ihm meine Nummer nicht gegeben“, so die 37-Jährige.

Das übliche Muster: Der Täter gibt der Frau die Schuld

Was sie erzählen werde, wenn sie nach Hause komme, habe der Busfahrer sie noch gefragt. Darauf habe sie geantwortet, sie werde behaupten, dass sie ausgerutscht und hingefallen sei. „Da sagte er ‚Wenn du der Polizei oder irgendjemand anderem etwas erzählst, dann finde ich dich, vergewaltige dich und schneide dir die Kehle durch!‘ Dann hat er die Tür geöffnet und wir sind ausgestiegen. Er lief noch eine Weile neben mir her.“ Als sich Ibrahim T. entfernt hatte, sei sie in das erste Gebäude gegangen, das sie gesehen hat, und habe die Polizei gerufen.

T. wurde daraufhin festgenommen. Ihm wird neben sexuellem Missbrauch auch Raub vorgeworfen, da er der Frau bei der Tat einen Ring gestohlen haben soll. Für Entrüstung sorgt neben der abscheulichen Tat selbst T.s Aussage bei der Polizei. Denn der Busfahrer leugnet die Vergewaltigung gar nicht, gibt aber – in gewohnter Manier – der Frau die Schuld an der Tat. Als sie in den Bus stieg, habe sie ihn aufgefordert, an einen ruhigen Ort zu fahren, um mit ihm Geschlechtsverkehr zu haben. Als er das getan habe und zur Tat schreiten wollte, habe sie jedoch einen Rückzieher gemacht und ihn aufgefordert, davon abzusehen. „Sie hatte aber vorher ‚Ich liebe dich‘ zu mir gesagt, deshalb musste ich sie vergewaltigen“, so Ibrahim T.

Während in sozialen Medien viele Türkinnen und Türken befürchten und erwarten, dass Ibrahim T. wie so viele Vergewaltiger vor ihm mit einer milden Strafe davonkommen könnte, muss das Opfer mit dem Trauma und dem unvorstellbaren Leid leben, das ihr zugefügt wurde. Der Tageszeitung Hürriyet gab die Lehrerin ein Interview, das nur erahnen lässt, was sie seitdem durchmachen muss. „Wäre ich nur nicht in den Bus gestiegen. Ich bin so wütend auf mich selbst. Ich dachte, der öffentliche Nahverkehr wäre sicher. Hätte ich doch nur ein Taxi genommen. Oder wäre gelaufen“, sagte sie der Journalistin Ayşe Arman. „Mir wäre lieber, er hätte mich umgebracht, so sehr leide ich… hätte… hätte… Mein Kopf ist komplett durcheinander. Ich weine die ganze Zeit. Ich bin in einer unbeschreiblichen Trauer. Und gleichzeitig fühle ich mich, als hätte ich etwas falsch gemacht.“ Sie erfahre Unterstützung von anderen Frauen und Frauenrechtsvereinen. „Trotzdem fühle ich mich allein. Es ist, als wäre mein Leben zu Ende.“

Der Fall lässt die Diskussion über Gewalt gegen Frauen und den grassierenden Sexismus in der türkischen Gesellschaft wieder hochkommen. Im Schnitt wird fast jede zweite Frau in der Türkei Opfer von Gewalt in der Ehe und die Türkei hat eine der höchsten Vergewaltigungsraten in Europa. Bei Gewaltverbrechen und Morden an sexuellen Minderheiten gar die höchste. Dabei wird diese Gewalt meist gar nicht bis nur minimal geahndet. Das gilt umso mehr für Staatsbedienstete: Der türkischen Statistikbehörde TÜİK zufolge gab es allein zwischen 1998 und 2013 409 Gerichtsprozesse wegen Vergewaltigung gegen männliche Polizisten, Soldaten und Sicherheitskräfte. Nicht ein einziger wurde bestraft.

Gleichzeitig steigt die Zahl der Morde, die an Frauen begangen werden, in erschreckendem Maße. Der Organisation „Kadın Cinayetlerini Durduracağız“ („Wir werden Frauenmorde stoppen“) zufolge wurden 2011 in der Türkei 121 Frauen von Männern ermordet. 2013 waren es der Statistik zufolge schon 237, fast doppelt so viele. 2016 waren es dem jüngsten Jahresbericht zufolge: 328. Ähnlich sieht die Entwicklung bei Vergewaltigungen und anderen Gewaltdelikten gegen Frauen aus.

Viele Frauenrechtsaktivistinnen und -aktivisten geben der Regierung mindestens eine Mitschuld an diesem Anstieg. Das gesellschaftliche Klima, das die AKP und ihre Anhänger forcieren, sowie das antiquierte Frauenbild, das sie fördern, trage dazu bei, dass Frauen in ihrer Selbstbestimmung immer weiter eingeschränkt und selbst Vergewaltigungen von vielen Männern als Kavaliersdelikte betrachtet werden. Immer wieder schockieren einzelne Fälle, die aus der schier endlosen Masse herausstechen, die türkische Öffentlichkeit und sorgen – zumindest in einigen Milieus – für erneute Diskussionen. Sei es der Fall der Studentin Özgecan Aslan, die von einem Dolmuş-Fahrer vergewaltigt und ermordet wurde und dessen Vater ihm noch half, die Leiche zu beseitigen. Sei es die bestialische Ermordung der LGBT-Aktivistin Hande Kader in Istanbul. Oder sei es „nur“ der Fall von Ayşegül Terzi, der 23-jährigen Krankenschwester, der ein Angreifer in einem voll besetzten Bus ins Gesicht getreten hat, weil sie kurze Hosen trug.

Auch dieser letzte Fall wird die Entwicklung der türkischen Gesellschaft zu mehr Frauenverachtung und immer weniger Akzeptanz weiblicher Emanzipation, individueller Lebensführung und sexueller Selbstbestimmung mittelfristig nicht aufhalten. Neu ist für viele Frauen nur die Gewissheit, dass man nicht mal in einem Bus einer städtischen Nahverkehrsgesellschaft noch sicher ist.