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Kolumnen

Silvester zu feiern, macht einen Muslim noch nicht zum Ungläubigen

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Nein, ruhig und besinnlich waren die letzten Tage für mich nicht.

Erst der Anschlag in Berlin kurz vor Weihnachten, dann das Massaker in Istanbul in der Silvesternacht. Es gab viel zu berichten, dutzende Menschen starben, und mit ihnen noch ein wenig mehr die Hoffnung, dass es 2017 etwas friedlicher werden könnte.

Diese Hoffnung wird in der Türkei mittlerweile regelmäßig, um nicht zu sagen wöchentlich zerstört. Den Menschen ist ein Grundbedürfnis geraubt worden, das Recht auf ein sicheres Leben. Ob am Flughafen, vor dem Stadion oder in einem Nachtclub, die Botschaft der Terroristen ist eindeutig: Niemand ist vor uns sicher, nirgendwo und zu keiner Zeit.

Das Land ist wie eine tickende Zeitbombe. Spätestens während der Gezi-Proteste polarisiert, nehmen die Spannungen seitdem zu. Nach den Parlamentswahlen Anfang Juni 2015 brach das Chaos dann endgültig aus. Suruç, Ankara, Istanbul, Gaziantep… und immer wieder Istanbul. Hunderte Menschen sind bei zig Anschlägen gestorben. Mal schlugen PKK-Terroristen zu, mal IS-Terroristen.

Der jüngste Anschlag am Samstag wurde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit vom IS verübt. Nach eigenen Angaben wollte er „Nazarener“, also Christen treffen, es starben aber vor allem Menschen muslimischen Ursprungs.

Ein Muslim sollte sich nicht über den Tod anderer Menschen freuen

Schlimmer als die Frage, wer starb, ist die Verspottung der Opfer, die man besonders in den sozialen Medien beobachten kann. Es gibt tatsächlich Menschen, die sich über den Tod anderer freuen können oder Schadenfreude empfinden. Wir können nicht wissen, warum die Menschen zu jener Nacht dort waren. Eine Silvesterparty zu feiern ist in der Tat unislamisch, macht aber einen Muslim noch lange nicht zu einem Ungläubigen.

Die staatliche Religionsbehörde Diyanet wird in diesen Tagen heftig für ihre letzte Freitagspredigt kritisiert. Ihr Präsident Mehmet Görmez sieht sich derzeit mit einer Sammelklage konfrontiert. Die Predigt habe den gesellschaftlichen Frieden gefährdet und die Silvesterfeiern zur Zielscheibe gemacht, so der Vorwurf.

An dem, was in der Predigt gesagt wurde, ist zunächst einmal aber nichts auszusetzen. Die Feiern zum Neujahrsfest seien unislamisch und mit “unseren Werten” nicht vereinbar, hieß es darin. Das ist vollkommen korrekt und legitim. Böller und Raketen zu werfen verschmutzen die Umwelt und kaum eine Feier kommt heutzutage ohne Alkohol aus. Für einen gläubigen Muslim ist es nicht nur nicht erlaubt, Alkohol zu trinken, sondern sich auch nicht bei Feiern oder Veranstaltungen aufzuhalten, bei denen Alkohol ausgeschenkt wird.

Ein merkwürdiger Brauch in der Türkei

Wie dem auch sei, die Predigt war eine Reaktion, auf eine merkwürdige Kultur, die sich in den letzten Jahren in der Türkei etabliert hat. Während an Weihnachten so gut wie nichts passiert (außer natürlich bei den wenigen Christen im Land), werden an Silvester Weihnachtsbäume geschmückt. Weihnachtsmänner sind auf den Straßen anzutreffen, Geschäfte locken mit Weihnachtsangeboten. Auch Muslime – mit welcher Absicht auch immer – machen mit. Der Verkauf von Silvesterraketen ist auch in der Türkei ein Geschäft, das boomt.

Unter den konservativeren Gläubigen herrscht Jahr für Jahr Protest gegen diese Entwicklung. Dieses Jahr schlug er teils in Hetze und rohe Drohungen um. In einer Stadt stellten junge Männer eine Szene nach, bei der einem Weihnachtsmann eine Pistole an die Schläfe gehalten wurde. Andernorts wurden Flugblätter verteilt, wo vor unehelichem Sex, Alkohol und Glücksspiel gewarnt wurde.

Seit Jahren gibt es zudem die Tradition, an Silvester der Eroberung von Mekka zu gedenken – obwohl der Jahrestag eigentlich ein ganz anderer ist. Es ist der gut gemeinte, aber selten gelungene Versuch, die Menschen vom Feiern an Silvester abzuhalten.

Auch ich war an diesem Samstag bei einer solchen Veranstaltung in einer Ditib-Moschee in Deutschland dabei. Was ich dort erlebte, machte mich stutzig.

Nichts anderes als eine Hasspredigt

Zunächst lief alles ganz normal: Der Vorbeter begann klassisch mit einer Anrede und rezitierte aus dem Koran. Seine Schüler trugen verschiedene Texte vor, sangen gemeinsam mehrere religiöse Lieder vor. So weit, so gut. Doch dann setzte der Vorbeter zu etwas an, was ich im Nachgang nur als Hasspredigt bezeichnen kann. Allen Ernstes erklärte er, dass die christliche Bevölkerung in der Silvesternacht „das Leiden der Muslime“ feiern würde. Sie würden anstoßen zu ihren Siegen im Irak, in Afghanistan, in Syrien. Mehrere Minuten lang berichtete ein aus der Türkei vor wenigen Jahren nach Deutschland gekommener Diyanet-Beamter, was unsere christlichen Nachbarn in jener Nacht alles tun würden. Ein Beamter, der wohl noch nie einer Silvesternacht in einer christlichen Familie beigewohnt hat.

Ich feiere kein Silvester. Ich trinke auch keinen Alkohol. Raketen und Böller habe ich wenn überhaupt nur als Kind geworfen. Aber ich habe viele christliche Freunde. Und was der Imam dort von sich gab, hat mit der Realität, wie ich sie bislang erlebt habe, nichts zu tun. Niemand erhob Einspruch, aber aus den Gesichtern der Anwesenden konnte man den Schock, mindestens aber die Verwunderung herauslesen.

Mich aber beschäftigte diese Ansprache an diesem Abend fortlaufend, und ich frage mich, was sie mit den Kindern tut, die dort waren. Denkt der Imam tatsächlich so? Oder war das nur eine Vorgabe aus Ankara? Was erzählt er seinen Schülern, wenn sie unter sich sind?

Ich thematisierte diese Fragen später, als wir mit der Familie zusammensaßen und stellte erleichtert fest, dass sich auch meine Verwandten mit ähnlichen Dingen beschäftigten. Ich werde den Imam bei meiner nächsten Begegnung auf seine Worte ansprechen, so viel steht fest.

Versöhnen statt entzweien

Politiker und Vorbeter sind Vorbilder, an denen sich Menschen orientieren. Wie wäre es gewesen, hätten sie vor Silvester darauf hingewiesen, dass wir alle in demselben Boot sitzen und durch schwierige Zeiten gehen? Dass es in Ordnung ist, seinen Mitmenschen ruhige und besinnliche Tage und alles Gute für das neue Jahr zu wünschen, aber dass es aus islamischer Sicht nicht gutgeheißen wird, das Fest aktiv und bewusst zu feiern? Sie sollten versöhnen und nicht entzweien.

Wir leben nun mal nach dem gregorianischen Kalender. Und wir wünschen uns auch täglich einen schönen Tag oder Abend, jeden Freitag ein schönes Wochenende und vor dem Sommer eine schöne Urlaubszeit. Abgesehen davon, dass Silvester wenig mit dem Glauben, sondern vielmehr mit der Zeitrechnung zu tun hat, sehe ich nichts verwerfliches daran, jemandem ein „Frohes, neues Jahr“ zu wünschen, auch wenn ich selbst wenig damit anfangen kann. Was ich sagen möchte: Wir sollten uns von unseren Komplexen lösen und zusehen, was wir tun können und nicht, was wir auf keinen Fall tun dürfen. Die Vorbeter in Deutschland müssen sich vielmehr mit den Problemen der Jugend in diesem Land befassen. Dazu ist es zwingend erforderlich, dass sie ihre Sprache sprechen. Sonst werden sie und ihre Schüler auf Dauer aneinander vorbei leben.

Die Ditib hat versprochen, in Zukunft mehr auf Menschen zu vertrauen, die hier sozialisiert und aufgewachsen sind. Sie war bislang immer für ihre besonnene Stimme bekannt. Die Radikalisierungstendenzen, die ich in letzter Zeit beobachte, bereiten mir jedoch Unbehagen.