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Gesellschaft

Staatsreligion oder Staat ohne Religion? Ein Jahrhundertproblem der muslimischen Welt

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Das Konzept der Trennung von Staat und Religion ist in der muslimischen Welt bis heute großen Widerständen ausgesetzt. Das liegt vor allem daran, dass es als westliches Konzept wahrgenommen und nicht auf rationale Weise diskutiert wird, erklärt Yaşar Yeşilyurt

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Karte des Nahen Osten
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GASTBEITRAG Wenn es Gesellschaften nicht gelingt, zuerst die notwendigen öffentlichen Debatten über ihre Probleme zu führen und dann sie zu lösen, entwickeln sich diese Probleme zu unlösbaren Dauerstreitthemen. Die sogenannten Kurden-, Aleviten-, und Armenier-„Probleme“ sind Beispiele dafür aus der Türkei. Ein weiteres Problem, welches nicht nur die Türkei, sondern die gesamte muslimische Welt betrifft, ist die Laizismus-Frage. Der Laizismus wurde in der muslimischen Welt niemals wissenschaftlich-sachlich erörtert.

Dieses wichtige Thema war über ein Jahrhundert lang ein Randthema, das weit weg von rationaler Argumentation durch parteiische und emotionale Debatten geprägt wurde. Deshalb gibt es weder einen gesellschaftlichen Konsens in dieser wichtigen Frage, noch ist eindeutig geklärt, was überhaupt unter Laizismus zu verstehen ist.

In den vergangenen Jahrzehnten hat die zunehmende weltweite Bedeutung zuerst der Terrororganisation al-Qaida und dann des IS zur Folge gehabt, dass in der islamischen Welt – insbesondere aber in der Türkei – eine erneute Debatte um den politischen Islam geführt wurde. Den eigentlichen Kern dieser Debatte bildet die Frage, wie die Beziehung zwischen Religion und Laizismus, oder anders gesagt die Beziehung zwischen der Religion und dem Weltlichen aussehen soll.

Wenn man den Begriff Laizismus auf die Frage nach der Beziehung zwischen Staat und Religion reduziert, kann man von zwei wesentlichen Modellen sprechen: Das erste ist der „harte“ Laizismus, der in Kontinentaleuropa praktiziert wird und der den Staat vor der Hegemonie der Religion schützen soll. Dieser Laizismus ist das Ergebnis einer sehr langen historischen Entwicklung. Wissenschaftler, Denker und Vertreter des Freiheitsideals litten jahrhundertelang unter der Gewaltanwendung der Kirche. Diese wiederum hielt – einschließlich der Kontrolle über den Staat – alle Bereiche des menschlichen Lebens unter Aufsicht und verhinderte damit jegliche gesellschaftliche Entwicklung. Dieser antireligiöse Laizismus steht dafür, dass der Staat über die Religion bestimmt, und wird beispielsweise in der Türkei und Frankreich praktiziert.

Das zweite Modell – der „weiche“ Laizismus, dessen Ziel es ist, die Religion vor dem Eingriff des Staates zu schützen – wurde erstmals auf dem neuen Kontinent von den fromm-christlichen Einwanderern aus Europa verwirklicht, in den USA. Die Siedler aus dem alten Europa wollten ihre Religionen frei ausleben und dabei nicht vom Staat beeinträchtigt werden, wie es in ihren Herkunftsländern der Fall war. Der Staat sollte keine Herrschaft über das geistige Leben der Gläubigen ausüben. So ist ein Säkularismus-Modell entstanden, in dem ein friedliches Verhältnis zur Religion vorgesehen ist.

In der islamischen Welt wurde ausschließlich das französische Model diskutiert und angewandt. Im Gegensatz zu Frankreich waren aber weder die historischen Voraussetzungen gegeben, noch gab es eine gesellschaftliche Forderung danach. Dort war es eine Norm, hervorgegangen aus dem Inneren der Gesellschaft, die den sozialen Bedürfnissen entsprach. Hier war es ein Model von politischen Eliten, das der Gesellschaft von oben herab aufgezwungen wurde.

In der muslimischen Welt war also der Anfang problematisch, fand keine wissenschaftliche Würdigung und somit auch nicht den nötigen Respekt. Aufgezwungener staatlicher Laizismus entwickelte sich darüber hinaus zu einer der größten gesellschaftlichen Wunden. Die mächtigen Laizisten in der Türkei zum Beispiel haben lange Jahre jede Form von Religiosität als „reaktionär“ („irtica“) abgestempelt, die Gläubigen unterdrückt und sie mit staatlichen Mitteln bekämpft. Die Gläubigen hingegen haben den Kampf gegen alle ideellen Errungenschaften des modernen Westens als „Dschihad“ gesehen.

Eigentlich ist der Laizismus eine Grundfrage, die man längst hätte lösen müssen. Sie hat sich aber leider zu einem Grundproblem entwickelt, das seit nunmehr 150 Jahren den sozialen Frieden bedroht und die Intellektuellen der islamischen Welt immer noch beschäftigt.

Der türkische Verfassungsrechtler Ali Fuat Başgil ist ein wichtiger Denker und ein bedeutendes politisches Gesicht der modernen Türkei. In seinem vielbeachteten Buch „Religion und Laizismus“ von 1954 trifft er wichtige Aussagen, die über ein halbes Jahrhundert nach seiner Erstveröffentlichung immer noch Gültigkeit besitzen:

  • Wie wir uns als Individuen verhalten geht andere nichts an. Das Ergebnis betrifft lediglich unsere Person. Unser soziales Handeln hingegen betrifft auch andere und stellt unsere Beziehung zu ihnen dar.
  • Das Gebet ist kein Beziehungsakt zwischen Individuen, sondern zwischen dem Individuum und Gott. Somit kann es kein Gegenstand der Gesetzgebung sein, sondern ist einzig und allein ein Verhalten des Individuums, das es selbst betrifft.
  • Ein laizistischer Staat darf sich nicht in Form sowie Art und Weise der Ausübung von Gebeten und religiösen Riten und seiner Sprache einmischen.
  • Wissenschaft und Religion sind so wie Vernunft und Emotion zu betrachten. Sie stehen nicht im Widerspruch zueinander und negieren sich nicht gegenseitig, sondern bedürfen und ergänzen sich.
  • In einem Rechtsstaat sind alle Überzeugungen und Meinungen gleich viel wert und verdienen denselben Respekt. Denn er ist kein Staat für eine bestimmte Klasse oder Gruppe, sondern für die Allgemeinheit.