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Kolumnen

Standing Ovations für Mirza Odabaşı, meinen Bruder.

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Kamuran Sezer berichtet von seinen Eindrücken auf der Premiere des Films „93/13“ von Mirza Odabaşı, der anlässlich des 20. Jahrestags zum Brandanschlag in Solingen vorgeführt wurde.

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Standing Ovations für Mirza Odabaşı, meinen Bruder.
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Mirza Odabaşı ist 25 Jahre alt. Wenn er mich anspricht, dann tut er dies mit „Kamuran abi“. Abi steht für großen Bruder und soll dem Älteren den eigenen Respekt aber auch die Nähe demonstrieren, den man empfindet. Wenn Mirza mich „abi“ nennt, dann freue ich mich. Aber wie bei jedem anderen auch, achte ich zunächst darauf, Distanz zu wahren. Denn nehme ich das „abi“ an, übernehme ich auch Verantwortung, die ich sodann aus vollem Herzen wahrnehmen werde.

Mirza ist ein Künstler, der es geschafft hat, sehr früh auf sich aufmerksam zu machen. Und mit seinen 25 Jahren hat er vom Landesintegrationsrat NRW den Auftrag bekommen, den grausamen Brandanschlag auf die Familie Genç am 29. Mai 1993 zu dokumentieren. 20 Jahre später, am 29. Mai 2013, fand die Premiere seines Werks in Solingen statt, dem ich ebenfalls beiwohnte. Ich wollte dabei sein – unbedingt.

Ein Künstler, wie man sich ihn vorstellt, doch etwas stimmt nicht

Vor dem Film war ich angespannt und nervös. Wie wird er sein? Wird er auf die Tränendrüse drücken? Hass empfinden lassen? Oder doch versöhnen? Die Mehrheitsgesellschaft anklagen? Oder uns zur falschen Rücksichtnahme auf diese Gesellschaft auffordern, wie ich oft, sogar viel zu oft, in Debatten erlebe? Welche Botschaft wird der 25-Jährige den Zuschauerinnen und Zuschauern vermitteln?

Mirza geht im Halbdunkeln bedächtig nach vorne vor das Publikum, das bereits Platz eingenommen hat. Er ist ein Künstler, wie man sich ihn vorstellt. Denn er strahlt Präsenz aus. Heute Abend ist er der Mittelpunkt. Mirza ist endlich vorne angekommen. Jetzt ist sein Moment. Er hat das Mikrofon in der Hand. Seine Brust hebt an, denn er holt Luft. Jetzt wird er nämlich sein Film ankündigen, was er auch tut. Aber etwas stimmt nicht.

Mirza steht am Rand, mehr im Dunkeln als im Licht. Man kann ihn kaum sehen. Ich versuche Fotos zu machen. Es gelingt mir nicht. Er wagt sich einfach nicht in die Mitte. Er bewegt sich so, als ob er dort nicht hingehört. Seine Stimme ist klar aber zerbrechlich. Seine Worte wählt er bedächtig. Seine Sätze hält er kurz, so, als ob er die kostbaren Minuten seines Publikums nicht unnötig verschwenden will.

Demut – Stärke oder Schwäche?

Endlich kommt er etwas in die Mitte, aber nicht seinetwillen. Er dankt seinem Team. Und seinen Eltern. Das Publikum applaudiert. „Demut“, denke ich in diesem Augenblick. Ich denke weiter, dass Demut als Teil eines anatolischen Selbstbewusstseins beschrieben werden könnte, die aber in der deutschen Gesellschaft oft als Schwäche missverstanden wird. Mirza, das habe ich nun verstanden, will nicht sich präsentieren, trotz des Künstlers, der aus ihm nach außen bricht.

Der Film fängt an. Menschen kommen zu Wort, schildern ihre Erinnerungen aus den 1990er Jahren, dem Brandanschlag, die Entwicklungen davor, die Enttäuschungen danach. Man sieht Amateuraufnahmen. Im Hintergrund hört man die Stimme von Mevlüde Genç. Das ist einfach. Man erkennt sie an der in Tränen ertränkten Stimme. Jetzt sieht man sie. Sie berichtet von der Nacht. Mein Sitznachbar bricht nach vorne ein. Ich weiß warum.

Die Leserinnen und Leser, die sich den Film nicht angeschaut haben, werden es vielleicht nicht verstehen. Aber das Publikum weint nicht und trauert auch nicht klagend. Kein Schluchzen ist zu hören. Es wird aufmerksam geschwiegen. Manchmal wird geschmunzelt und gelacht. Ich tue es auch. Und ich nicke manchmal. Und ich nicke mit Vehemenz bei Mirzas Feststellung, dass Thilo Sarrazin kein Mitglied einer rechtsextremen Partei ist. Und dass sein Nachbar im dritten Stock es wahrscheinlich auch nicht ist. Ich bin dankbar für diese kluge Diagnose. Denn der Brandanschlag in Solingen ist eine Entwicklung, die uns den Weg in die Zukunft beleuchtet.

Der Film ist vorbei. Nach 30 Minuten etwa, glaube ich. Das Publikum fängt an zu applaudieren, erst zaghaft, doch der Applaus hört nicht auf, er wird sogar lauter und schwungvoller. Die Aufführung endet in Standing Ovations, zu Recht.

Ich fahre nach Hause und lege mich zum Schlafen hin. Am nächsten Morgen sehe ich, dass Mirza um 2:19 Uhr in der Nacht mir über Facebook eine Nachricht geschickt hat. „Kamuran abi“, schreibt er. Er bedauere, dass wir uns nicht unterhalten konnten und hoffe, dass mir die Aufführung gefallen hat. Ich schreibe ihm absichtlich keine Antwort. Denn ich möchte, dass er meine Antwort hier liest:

„Lieber Mirza, mein Bruder!

Ob mir der Film gefallen hat, fragst du!? Du hast nicht auf die Tränendrüse gedrückt. Du hast auch nicht angebiedert. Du hast nicht angeklagt. Aber du hast auch nicht ignoriert. Du hast keinen Hass gesät. Aber du hast auch nichts geschönt. Du hast uns traurig gemacht. Aber du hast uns auch zum Lächeln gebracht. Und das wichtigste: Du hast uns am Ende des Films nicht in eine Sackgasse geschickt. Im Gegenteil – du hast uns gezeigt, dass für die gemeinsame Zukunft aller in Deutschland wir uns auf einer Reise befinden, dessen Ausgang von uns abhängt. Ja, dein Film hat mir gefallen!

Dein Kamuran abi.“