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Politik

Südosttürkei: Die Christen von İdil geraten zwischen die Fronten

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Der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der PKK hat auch die Stadt İdil erreicht. In ihr leben die Überreste einer der ältesten christlichen Gemeinden der Welt. Die wird nun auch in den Konflikt hineingezogen.

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Im Südosten der Türkei hat die Schlacht um die Stadt İdil begonnen, in der nach fast 2000-jähriger christlicher Geschichte nun die letzten neun Christen ausharren. Wie Einwohner am Donnerstag berichteten, wird die Kleinstadt seit zwei Tagen von schweren Explosionen erschüttert, die offenbar von türkischem Artilleriefeuer auf Stellungen der in der Stadt verschanzten PKK-Kämpfern herrühren.

Von den 30.000 überwiegend kurdischen Einwohnern waren die meisten bereits vor Ausbruch der Kämpfe aus der Stadt geflohen, in der diese Woche nur noch 2.000 Menschen verblieben. Wie der christliche Stadtratsabgeordnete Gebro Tokuş der Katholischen Nachrichten-Agentur sagte, sind darunter zwei aramäische Familien von insgesamt neun Menschen, davon drei Kinder und eine alte Frau. Tokus äußerte sich aus der Schweiz, wo er den Verlauf der Kämpfe abwartet.

Telefonischen Berichten von Einwohnern zufolge brachen türkische Soldaten am Donnerstag in İdil systematisch die verschlossenen Wohnungen der geflohenen Bewohner auf, darunter auch in der von Aramäern bewohnten Gasse. Der aramäische Geschäftsmann Robert Tutuş sagte der KNA, er fürchte um sein Hab und Gut, da die Wohnung nun offen und ungeschützt sei. Tutuş hält sich in Frankfurt auf, seit
sein Wohnhaus in İdil 2015 mehrfach von kurdischen Demonstranten angezündet worden war.

Eine der ältesten christlichen Städte der Welt

Die Stadt İdil liegt in der heutigen türkischen Provinz Şırnak zwischen dem Tigris und der Grenze zu Syrien und Irak. Sie zählt zu den ältesten christlichen Städten der Welt. Der Grundstein ihrer Marienkirche soll apokryphen Berichten zufolge als Versammlungsraum
von Christen bereits im Jahr 51 gelegt worden sein. Noch 1964 war die Kleinstadt ausschließlich von aramäischen Christen bewohnt – die aber seither von kurdischen Zuwanderern verdrängt wurden und überwiegend nach Europa auswanderten.

İdil hatte sich vor elf Tagen schlagartig geleert, als die Lehrer an den staatlichen Schulen von İdil vom Bildungsministerium kurzfristig zu einer „Schulung“ nach Ankara einbestellt wurden – ein unmissverständliches Signal, dass die Armee sich anschickte, nach den benachbarten Städten Cizre und Nusaybin nun auch İdil von der PKK zurückzuerobern. Zu Wochenbeginn rollten lange Konvois von Panzern auf Sattelschleppern in die Stadt und signalisierten den bevorstehenden Beginn der Kämpfe.

Die Konfrontation um die von der pro-kurdischen HDP regierte Kleinstadt zeichnete sich schon länger ab. Seit Monaten rissen Kämpfer der PKK-Jugendmiliz YDG-H mit Baumaschinen aus dem städtischen Fuhrpark die Straßen von İdil auf und hoben Gräben aus, um die türkische Polizei und Behörden am Betreten bestimmter Stadtteile zu hindern. Erst vor vier Tagen hatten PKK-Terroristen eine türkische Schule in der Stadt in Brand gesetzt (Foto). Bis zur jüngsten Flucht lebten in İdil noch 10 bis 15 aramäische Familien in der Stadt, also etwa 40 bis 50 Personen unter den heute 30.000 Einwohnern.

Zu Wochenbeginn glich die sonst quirlige Ortschaft einer Geisterstadt – dafür war die Nachbarstadt Midyat überfüllt, weil zu den Flüchtlingen aus Cizre und Nusaybin nun auch die fliehende Bevölkerung von İdil kam. Die Schulen von İdil lagerten den Unterricht für die 8. und 12. Klassen, in denen wichtige Prüfungen anstehen, in die 150 Kilometer entfernte Großstadt Batman aus. Für die anderen Klassen wurden keine Vorkehrungen getroffen.

LAnger Niedergang der christlichen Gemeinde

İdil soll ihrer Tradition zufolge im ersten Jahrhundert vom christlichen Apostel Thaddäus missioniert worden sein. Unter ihrem ursprünglichen Namen Azakh machte sie Geschichte, als sie 1915 während der Massaker an Christen  einer 40-tägigen Belagerung von Kurdenstämmen und osmanischen Truppen widerstand. Den Namen İdil erhielt sie erst 1937, als die Türkische Republik alle althergebrachten Ortsnamen in Anatolien türkifizierte.

Mit der kurdischen Zuwanderung und der teils erzwungenen Abwanderung der aramäischen Christen kippte die Demografie von İdil, als die türkischen Behörden bei der Kommunalwahl von 1977 einen kurdischen Stammesfürsten gegen den christlichen Bürgermeister durchsetzten. Der neue Bürgermeister erhielt damals eigenen Angaben zufolge ein Glückwunschtelegramm von dem ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat, der ihm zur „Eroberung von İdil für den Islam“ gratulierte. (kna/dtj)