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Politik

Südosttürkei: Über 90% der Einwohner von Sur geflohen

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Im Südosten der Türkei gehen die Kämpfe weiter, im Stadtteil Sur von Diyarbakır sind von 24.000 Einwohnern noch 2.000 geblieben. Doch nicht nur die Leiden sind groß, auch der Zynismus regierungstreuer Medien.

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Es ist Winter, das Wetter kalt, der Boden hart; gesät wird aber trotzdem. Allerdings nicht Früchte, Getreide oder andere Lebensmittel, sondern Gewalt. So wie jetzt gerade in den kurdischen Gebieten der Türkei. Aktuell wird in den Städten Diyarbakır, Cizre und Silopi gekämpft. Auf der einen Seite steht die Jugendorganisation der PKK, die YDG-H, die auf den Straßen Barrikaden errichtet und Gräben aushebt; auf der anderen Seite stehen Soldaten und Polizisten, die den Auftrag haben, wieder für Ruhe zu sorgen und die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Sogar Panzer werden mitten in Städten eingesetzt.

„Wenn ihr Brüder seid, dann antwortet auf unser Leid!“

Auch wenn beide Seiten Erfolge für sich beanspruchen, was auf der Strecke bleibt sind die Menschen, die Zivilisten, die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben, Hoffnung auf die Zukunft. Der „Organisation zur Beobachtung der Menschenrechte“ („İnsan Hakları İzleme Örgütü“) zufolge sind seit Juli diesen Jahres 100 Zivilisten bei den Auseinandersetzungen ums Leben gekommen. Ein Bericht über die aktuelle Situation vor Ort, den die beiden CHP-Abgeordneten Hilmi Yarayıcı und İlhan Cihaner verfasst haben,  gibt die Zahl der Getöteten in diesem Jahr mit 523 an, 171 davon Sicherheitskräfte, 195 PKK-Kämpfer und 157 Zivilisten.

Auch von Sur, der historischen Altstadt von Diyarbakır, wo es besonders schwere Kämpfe ausgetragen werden, zeichnet der Bericht ein düsteres Bild: Die Einwohnerzahl Surs betrug einst 24.000 – mittlerweile ist sie auf 2.000 gesunken. Die restlichen 22.000 Einwohner sind geflohen, haben Zuflucht woanders gesucht. Sie gehören zu den 200.000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr ihr Wohngebiet verlassen haben. Der Bericht der Abgeordneten bringt auch die Botschaft der Einwohner vor Ort an die Menschen im restlichen Land zum Ausdruck: „Unsere Brüderlichkeit, unser Zusammengehörigkeitsgefühl leidet. Ihr redet von Brüderlichkeit. Brüderlichkeit bedeutet, dass ihr das leid, das wir erleben, spürt, versteht und auf unser Leid antwortet!“

Menschen in Sur geht es ums Überleben, der Zeitung Star um Bauprojekte

Es ist ein Aufruf, eine Aufschrei, der in den regierungsnahen Medien auf taube Ohren stößt. Mehr noch: Sie scheinen in ihrem Zynismus keine Grenzen zu kennen. Die regierungstreue Zeitung Star titelte am heutigen Dienstag auf ihrer ersten Seite mit einem Bild der Zerstörungen in Sur, darüber stand in Großschrift: „TOKI an die Arbeit“. TOKI ist die staatliche Wohnungsbaubehörde. Über dem Bild des weitgehend zerstörten Stadtteils war zu lesen: „Bürger haben den Ort verlassen, die Terrororganisation hat ihn zerstört. Die einzige Hoffnung tausender von Menschen liegt darin, dass der Staat neue Wohnräume wie in Diclekent baut, wo auch Demirtaş und Kışanak wohnen.“ Selahattin Demirtaş ist Ko-Vorsitzender der pro-kurdischen HDP und Gültan Kışanak die kurdische Bürgermeisterin von Diyarbakır.

Wer solche Brüder hat, braucht wohl keine Feinde mehr. Während Menschen vor Ort unter der Gewalt leiden, geht es der Zeitung um Neubauten in den zerstörten Stadtteilen. Nebenbei wird versucht, die ganze Schuld der anderen Seite zuzuschieben und die Wut auf die führenden kurdischstämmigen Politiker und Politikerinnen zu lenken. Geht diese Rechnung auf? Kann man mit Gewalt Probleme lösen? Wohl kaum. Die Saat, die heute im Südosten der Türkei auf die Erde gestreut wird, wird wohl noch viele Jahre als Gewalt und neuer Leiden geerntet werden. Die nächste Generation von PKK-Terroristen wird gerade in den zerstörten Vierteln der Südosttürkei herangezogen.