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Sufismus oder politischer Islam?

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Der Unterschied zwischen dem sufischen und dem politischen Islam wird in den Medien so gut wie gar nicht thematisiert. Özkan Tokuç hat sich mit dem Thema etwas befasst.

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Politischer Islam, Sufischer Islam, Erdoğan, Gülen
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Seit knapp drei Jahren geht der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan mit aller Macht des Staates gegen den muslimischen Prediger Fethullah Gülen und seine Bewegung vor. Aus heutiger Sicht kann man sagen: Sein Zorn hat der Türkei die zumindest ansatzweise vorhandene Demokratie und die Menschenrechte gekostet.

Wie verheerend sein Wirken ist, wird in den Medien – mal gut, mal weniger gut – illustriert. Ich möchte vielmehr einen Punkt hervorheben, der mir in Sachen Gülen und Erdoğan nicht genügend thematisiert wurde. Einer der Konfliktpunkte, der die Spannungen in der Türkei prägt, wurde meines Erachtens bisher nur ansatzweise angesprochen: die konträren Islamverständnisse beider Parteien.

In Europa ist man noch weit davon entfernt, dass Grundkenntnisse über den Islam bei den meisten Menschen selbstverständlich sind. Dass der Islam facettenreich ist und dass sich innerhalb der letzten 14 Jahrhunderte über die ganze islamische Welt hinweg verschiedene Islamverständnisse entwickelt haben, ist auch vielen „Islamexperten“ noch fremd.

Eine ausführliche Darstellung aller historischen und soziologischen Ereignisse und theologischen Entwicklungen möchte ich überspringen. Das würde den Rahmen sprengen. Jedoch empfehle ich an dieser Stelle allen, die eine realitätsnahe Reflektion der gegenwärtigen Konflikte anstreben, sich intensiv mit dem geschichtlichen und theologischen Werdegang des Islams zu beschäftigen.

Der Koran selbst sagt von sich selbst, er sei auslegbar:

„Er (Gott) ist es, Der dir das Buch herabgesandt hat. Darin sind eindeutig klare Verse – sie sind die Grundlage des Buches – und andere, die verschieden zu deuten (auslegbar) sind. Doch diejenigen, in deren Herzen (Neigung zu) Schlechtes ist, folgen dem, was darin verschieden zu deuten ist, um Zwietracht herbeizuführen und Deutelei zu suchen, (indem sie) nach ihrer abwegigen Deutung trachten.“ (Sure 3 (Al-i Imran), Vers 7).

Seiner Auslegbarkeit ist zu danken, dass er kein starres Gebilde für das 7. Jahrhundert des Arabischen Raums darstellt, sondern nach den soziologischen, geografischen, wissenschaftlichen und epochalen Wandlungen der Menschen interpretiert werden kann, ja sogar soll. Aus dieser Auslegbarkeit sind die verschiedenen Rechtsschulen (Fiqh) sowie verschiedenen Exegesen aus Koran und Sunnah (Kalam) entstanden.

Fethullah Gülen selbst gehört zur Richtung des Kalam, dem „Streben nach der Wahrheit über die Botschaft Gottes und des Propheten“. Hierbei folgt er dem Weg des mystischen Islams, der Tradition des Sufismus. Der Sufismus ist eine besondere, über tausend Jahre alte Strömung innerhalb der islamisch-sunnitischen Welt, deren Vertreter stets die Fahne der Toleranz, Barmherzigkeit und Liebe zum Geschöpft hochhielten. Beispiele sind Üveys El Karani, Basri, Rabia El Adeviyya, Mawlana Rumi, Yunus Emre, Ibn-i Arabi, Rabbani, Gazali, Geylani und viele weitere.

Als weiteres Glied dieser toleranten Tradition steht Gülen ebenfalls für diese Werte und spricht sich für einen Islam aus, der sich nur bei jedem Menschen individuell entfalten kann und darf – und so in scharfem Kontrast zu dem steht, was wir heute unter dem Begriffs des politischen Islams kennen.

Der politische Islam ist eine relativ neue Erscheinung und gewann erst im Zuge des Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhundert in der islamischen Welt an Boden. Seine Basis ist der Glaube, dass alleine unter einer muslimischen Herrschaft eine ideale gesellschaftliche Ordnung entstehen kann. Dementsprechend hegen die Vertreter des politischen Islams Machtansprüche, um durch ihre Hände und mit politischen Mitteln eine Gesellschaft nach islamischen Regeln zu Formen.

Doch dieses Modell hat in der islamischen Welt des 20. und 21. Jahrhunderts bisher nur Despoten, Autokraten und Diktatoren hervorgebracht. Noch intensiver und für den Westen spürbarer wurde dieses Problem mit der Entstehung von politisch-islamistischen Terrorgruppen wie Al Qaida oder Boko-Haram, Al-Shabab und des sogenannten Islamischen Staats.

Nicht alle Vertreter des politischen Islams sind gewaltbereit, jedoch bieten Staaten unter Herrschaft politischer Islamisten Nährboden für extremere Randerscheinungen.

Demgegenüber steht der Sufismus, der in seinen Lehren sogar der Erzfeind der Islamisten ist. Während der politische Islamist mittels Staats-/Machtapparaten versucht, eine Wertegesellschaft zu kreieren, widmet sich der Sufi-Muslim dem Verstand und der Seele des Einzelnen mit der Überzeugung, dass jeder Mensch einen persönlichen Weg zur Erkenntnis von Werten und Tugenden gehen muss.

In Europa und vor allem in Deutschland, so denke ich, muss man realisieren und auch medial hervorheben, dass der politische Islam mitsamt seinen Akteuren nicht mit dem authentischen Islam gleichgesetzt werden sollte. Denn dieser macht den Großteil aller Muslime aus, die wir als friedfertig, tolerant, altruistisch, gastfreundlich und barmherzig kennen.

Ich denke der effektivste Weg gegen religiöse Extremisten und ihre politischen Komplizen vorzugehen, sollte die Stärkung moderater Stimmen sein. Meines Erachtens nach gehört Gülen zu diesen Stimmen, die noch effektiver gegen den Terror sein können als jede abgeworfene Bombe.

Zumal er den Zuspruch und das Gehör zahlreicher Theologen und zivilgesellschaftlichen Gruppen aus der islamischen Welt genießt und die vermutlich schärfste muslimische Stimme gegen den islamistischen Terror ist. Seine Worte: „Ein Muslim kann kein Terrorist sein und kein Terrorist kann ein Muslim sein.“

Wenn wir von Gülen und Erdoğan sprechen, sprechen wir gleichzeitig vom individualistischen Islam und dem politisch diktierten Mono-Islam. (Foto: dpa)