Geschichte
Scheich Nazim – Der vollendete Weg
Mit Sufi-Scheich Nazim verließ ein spiritueller Führer die Welt, der es schaffte, die Naqshibandiyya über mehrere Kontinente hinweg bekannt zu machen und auf diesem Wege die Religion auch in Westeuropa und Amerika zu erneuern. (Foto: cihan)
Am 07. Mai 2014, dem Tag Khidr Elias, ist der Sufi-Scheich Nazim Adl al-Haqqani al-Kubrusi an-Naqshband in Nikosia verstorben. Er war Quelle der Inspiration und religiösen Erbauung für Tausende von Suchenden nicht nur in den türkisch geprägten Ländern, sondern seit den 70er-Jahren auch in den USA und Westeuropa.
Scheich Nazim repräsentierte mit einer Breitenwirkung wie kein anderer die Darstellung des mystischen Islam, speziell in Europa. Die mystischen Strömungen der Weltreligionen waren im Laufe der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts durch die Hippie-Bewegung in Europa bekannt und teilweise für unredliche Ziele ausgebeutet worden.
Manche damaligen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nahmen jedoch auch dauerhaft eine in Europa noch weithin unbekannte Weltreligion an. Als Meilensteine an Übertritten von Weltstars der Popkultur zu einer außerchristlichen Religion gelten die spektakuläre Konvertierung George Harrisons zum Hinduismus (Hare-Krishna-Bewegung) Ende 1966 oder der Übertritt von Cat Stevens zum Islam 1975. Es wurde im Westen durch weitere Protagonisten und Künstler wie den späteren Scheich der Shadhuliyya, Scheich Nooruddeen Durkey (Stephen Durkey), in den USA und Scheich Bashir A. Dultz in Deutschland deutlich, dass Gottesnähe kein Ergebnis von Drogenkonsum und anderer zweifelhafter Praktiken sein kann. Hier setzt der mystische Weg des Sufismus an, dass das Seelische eben nicht das Geistige ist.
Anfänge auf dem Weg
Nazim Kibrisi wurde 1922 geboren und studierte zunächst Chemie, wendete sich dann aber bald gänzlich dem Sufismus zu. Er ging nach Damaskus zu seinem Scheich Abdullah ad-Daghestani und lernte dort die klassischen Lehren des islamischen Rechts (fiqh) auf Arabisch. Nach eigenen Angaben erreichte er den Zustand der Auslöschung bei seinem Lehrer ad-Daghestani, der ihn allerdings nach Zypern schickte, was Nazim anfangs gar nicht gefiel. Nach einer Vision soll Großscheich Abdullah ihm ständigen Kontakt zu ihm versprochen haben, auch wenn er physisch nicht anwesend war. Auch politisch trat Nazim in Erscheinung. 1950 setzte sich Scheich Nazim gegen die Behörden durch, die den Gebetsruf auf Arabisch zwischenzeitlich für die Türkei und Nord-Zypern untersagt hatten.
Übergabe des Staffelstabes
In Nordzypern, später im Libanon und Syrien, konnte Scheich Nazim in kurzer Zeit einen Schülerkreis um sich scharen. 1973 starb sein Lehrer Abdullah ad-Daghestani und Scheich Nazim nahm die Position des Großscheichs der Naqshibandiyya ein. Er begann eine ausgedehnte Reisetätigkeit und sah fortan Europa als Schwerpunkt seiner Tätigkeit an. 1974 gründete er sein erstes Sufi-Zentrum in London. Auf seinen Reisen durch Europa, Asien und Amerika konnte Scheich Nazim Tausende Schüler gewinnen, die nicht nur einem geistigen Wege folgten, sondern auch und vor allem sunnitische Muslime hanafitischer Rechtsschule wurden. Daher zählt Nazim unbestritten zu einem der größten Da’i des 20. Jahrhunderts.
Damals in Deutschland
Zum großen Erfolg der Naqshibandiyya in Deutschland trug der Österreicher Issa Ernst Kainz bei. Er beschäftigte sich Anfang der 70er-Jahre mit dem charismatischen spirituellen Lehrer Georges Iwanowitsch Gurdjieff und seinen Werken und war Mitglied der Gruppe von Schülern um Omar Ali-Shah in Berlin, dem Bruder Idries Shahs (Buch „Die Sufis“). 1979 trat Kainz dem Naqshibandi-Orden bei. Weitere wichtige Schüler Nazims in Deutschland wurden Hussein Abdul Fattah, Hassan Dyck, Jalaluddin Rebler sowie Hagar und Selim Spohr. (Siehe auch Ludwig Schleßmann, „Sufismus in Deutschland“). Nachfolger Scheich Nazims ist sein Sohn Scheich Mehmet Efendi geworden.
Hintergründe
Zu den Erfolgen dieser Tariqah zählt vor allem, dass sie unter den Bedingungen des staatlich verordneten Atheismus in der Sowjetunion überleben konnte und auch in der Türkei nach der Schließung der Sufi-Klöster im Jahre 1925 weiterbestand. Ein Grund dafür mag die Bescheidenheit des Auftretens des Ordens und die spirituelle Praxis des „stillen Dhikrs“ (dhikr khafi) gewesen sein, die praktisch unbemerkt von der Außenwelt vollzogen werden kann.
Baha’ud-din Naqshband lebte von 1318 von 1389 in Zentralasien. Sein Grab befindet sich in Buchara, Usbekistan. Hinter dem Begriff „Naqsh“ steht der Gedanke des Abdrucks oder Stempels (arab. naqsh), den der Lehrer beim Lernenden hinterlässt.
Aber auch Scheich Naqshband stand bereits in einer älteren Tradition des Khwaja Yussuf Hamadani aus Khorassan, in Turkmenistan. Die geistige Kette dieser Tariqah geht als einzige Tariqah auf den Kalifen Abu Bakr as-Siddiq zurück, wohingegen sich die meisten anderen Turuq auf Ali berufen. Nach Aussage von Scheich Abdullah Khalis Efendi im brandenburgischen Trebbus gab der Prophet Muhammad seinen Nachfolgern bereits zu Lebzeiten ihr Dhikr, das heißt ihre spirituelle Praxis, mit auf den Weg, um die weltlichen Entscheidungen an den Erfordernissen der jenseitigen Realitäten zu orientieren.